Die auf den Eisschollen treiben

■ Andreas Kriegenburg inszenierte Tollers „Hinkemann“ in der Volksbühne

Andreas Kriegenburg ist als Regisseur ein Liebhaber und Forscher. Und beides auf eine fast kindliche Weise – kindlich im Sinne von unschuldig. Er will die Figuren, die er auf die Bühne stellt, nicht besitzen. Er benutzt sie nicht, um sich auszudrücken, sondern inszeniert seine Neugier an Fremden. Er tastet ihre Oberfläche ab, reibt sie aneinander, läßt sie auf den Boden fallen und nimmt sie wieder auf. Er fragt nicht: Was bewegt diese Figuren? Sondern er fragt: Wie bewegen sie sich, wie drücken sie sich aus?

In der Volksbühne hat er seit der letzten Spielzeit unter anderem Shakespeares „Othello“ inszeniert, „Der gute Mensch von Sezuan“ von Brecht und einen aus verschiedenen Texten komponierten „Aufstand der Angestellten“. Die Bilder, mit denen Kriegenburg seine Experimente durchführt, haben sich intensiviert – eine vielleicht von Frank Castorfs Arbeiten beeinflußte bewußte Unkonzentriertheit der Einfälle hat sich verloren. Nicht verloren hat sich die Überzeugung, daß sich der einzelne immer nur im Kontakt mit einem anderen erfahren läßt.

Das sieht auf der Bühne mittlerweile so allgemein und so gültig aus, wie es sich anhört. Menschen prallen körperlich aufeinander, drücken sich an die Wand, hängen aneinander. Die Grenze zum Tanztheater ist fließend, und mit „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“ – eine Inszenierung nach Benn-Gedichten im März 1994 – hat Kriegenburg sie auch überschritten.

Andreas Kriegenburg also, der die Volksbühne als Hausregisseur verlassen wird, hat zum Abschluß Ernst Tollers „Hinkemann“ inszeniert. Sprache und Körperausdruck prägen auch hier das Geschehen, was dem 1923 uraufgeführten expressionistischen Heimkehrerstück allzusehr entgegenkommt.

Annett Kruschke spielt Grete Hinkemann. Stimmlich scheint sie eine Menagerie zu imitieren, und ihren Körper behandelt sie wie eine Puppe: sie rollt ihn über den Boden und schiebt ihn an der Wand entlang. Ganz offensichtlich weiß sie nicht, wohin mit sich, noch findet sie Worte für das, was sie bewegt: Hinkemann ist impotent, eine Kriegsverletzung. Grete ist frustriert, ekelt sich vor ihm und vor sich selbst, denn sie kann nicht anders, als Hinkemanns Kumpel Paul Großhahn (Stephan Richter) in die Arme zu fallen und zwischen die Beine zu fassen und schließlich mit ihm wegzugehen.

Hinkemann, gespielt von Torsten Ranft, ist eine geschundene Kreatur der Nachkriegszeit. Er leidet und fürchtet zugleich das Mitleid. Auf dem Jahrmarkt verdingt er sich als „deutscher Held“, der lebenden Ratten den Hals durchbeißt – für 80 Mark am Tag. Winfried Wagner als opportunistischer Beutelschneider von Budenbesitzer hat da einen herrlichen Auftritt. Verlogen wie das Leben selbst umgarnt er Hinkemann, um ihn dann dafür zu verachten, daß er in den Handel einschlägt. „80-Marks- Mensch“ höhnt er und fertigt den Vertrag in zehnfacher Ausführung an. Bei Kriegenburg, wohlgemerkt.

Christian Beck hat den Hinkemanns einen Wohntunnel gebaut, eine Art Kohlenschacht, der sich nach oben verjüngt und in der Ferne ein blaues Viereck erkennen läßt – royalblau, das heißt: die Freiheit ist trügerisch. Einmal geht ein Tapetenfenster auf, und ein rotes Seidentuch von enormen Ausmaßen wird vom Wind der Geschichte hereingeblasen. Grete hüllt sich später darin ein, doch glücklich sieht sie nicht aus – politische Alternativen gibt es keine.

In einer Kneipe trifft Hinkemann einen Sozialisten und einen Anarchisten (Ulrich Voß und Gerd Preusche). Zwei schwankende Gestalten in Strampelanzügen sind das, die sich ihre festen Vorstellungen vom Leben mit einem Schluck aus der Weinflasche bestätigen. Sie murmeln von der idealen Gesellschaft, doch für Hinkemann, den „seelisch Kranken“, gibt es in keiner einen Platz. Kriegenburg läßt die beiden dann auch schlafen, als dieser von seinem Leid erzählt. Wie wünscht man sich während der zweieinhalbstündigen Aufführung, daß einer aufträte und zu diesem Schmerzenskloß sagte: „Reiß dich zusammen!“ Aber er wird bestenfalls ausgelacht, und Kriegenburg liebt Hinkemann zu sehr, um ihn zu ironisieren. Tollers nachrevolutionäre Zustandsklage, dieses gänzlich undramatische Wimmern, erhält freien Lauf, und bei der Premiere gab es etliche, die sich das nicht bis zum schlimmen Ende ansehen mochten.

Gretes Geschichte, der die wirkliche Tragik einer doppelten Wahrheit innewohnt, blieb indessen ungespielt. Statt zwischen Treue und Lebenslust zu schwanken, definiert Anett Kruschke Grete nur in Bezug zu Hinkemann und versinkt mit ihm im Jammertal. Bei Toller stürzt sie sich aus dem Fenster, und Hinkemann erhängt sich. In der Volksbühne ergreift der Anarchist, der noch aus einer vorherigen Szene auf der Bühne herumliegt, die Initiative und macht dem Elend, piff, paff!, ein Ende. Nicht einmal zur letzten Tat ist Hinkemann hier fähig, er braucht einen Gnadenschuß.

Sein Einverständnis mit dieser fatalistischen Botschaft bezeugt der Regisseur durch die endzeitliche Theater-Schönheit, in die er sie kleidet – ein trügerischer Trost fürs Publikum. Wie Kriegenburg die Figuren plötzlich tanzen läßt, für jede Stimmung den passenden Rhythmus findet: wundervoll.

Und in den Jahrmarktszenen bricht der Wohntunnel auf und gibt den Blick auf eine Traumlandschaft frei: Wolken auf endlosem Himmelblau, ein Seiltänzer tanzt im Hintergrund auf einem Seil, und wie auf Eisschollen oder einem zerborstenen Schiffsdeck bewegen sich die Schauspieler auf den verkanteten Brettern. Sie sehen dabei klein aus, ganz klein. Petra Kohse

Nächste Vorstellungen am 22., 23. und 25.2., 19.30 Uhr, Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte