■ Der Siegeszug der „Taliban“ in Afghanistan
: Des Schlachtens müde

Als die siegreichen Mudschaheddin im April 1992 nach Kabul einzogen, gehörte ihnen ein letztes Mal die Aufmerksamkeit der Welt. Dann wurde es still um das Land. Die „bösen“ Sowjets gab es nicht mehr, damit auch kein Interesse an den „guten“ Freiheitskämpfern. Nicht lange, und die siegreichen Kommandanten samt ihren meist jugendlichen, mit dem Krieg aufgewachsen Kämpfern gerieten sich in die Haare. 20.000 Menschen sind seit der Befreiung Afghanistans gestorben, und Pakistan konnte eine neue Flüchtlingswelle nur durch Schließung seiner Grenze aufhalten. Der UNO-Vermittler, der zwischen den Hauptquartieren von Rabbani, Hekmatjar und Dostam hin- und herpendelte, mußte einen Friedensplan nach dem andern in den Papierkorb werfen. Auch sein neuester Versuch hat geringe Erfolgschancen.

Plötzlich, als die internationale Öffentlichkeit das Land längst abgeschrieben hat, taucht aus der Tiefe der afghanischen Provinz ein gemischter Haufen von Kriegern und Predigern auf und überrollt innerhalb von Monaten ein Drittel des Landes. Noch bevor sich die Afghanistan-Spezialisten ihren Reim darauf machen können, stehen die „Theologiestudenten“ vor Kabul und bedrohen Präsident Rabbani, der während zwei Jahren der geballten Feuerkraft seines Belagerers Hekmatjar getrotzt hatte; dieser hatte gar nicht erst Kampfkontakt gesucht und ist in den Bergen verschwunden. Im Schatten des internationalen Desinteresses hatten die „Taliban“, aus Pakistan kommend, im Süden einen Warlord um den anderen entweder ausgeschaltet oder gefügig gemacht. Und nun schicken sie sich an, die ausweglos scheinende gegenseitige Verkrallung der größten Mudschaheddin-Gruppen mit einem Schlag zu lösen.

Wer unter Erklärungszwang steht, fällt gewöhnlich kein gutes Urteil. Aber das wenige, was über die Taliban bekannt ist, weist darauf hin, daß die Mudschaheddin nicht einer militärischen Übermacht gewichen waren. Es war vielmehr deren politische Schwäche, welche die kriegsmüde Bevölkerung, dann die Kämpfer und schließlich die Kommandanten zu den Taliban überlaufen ließ. In den zwei Jahren Bürgerkrieg hatten sie den Kredit aufgezehrt, den ihnen dreizehn Jahre Freiheitskrieg gegeben hatten. Daß die Taliban ihren Kreuzzug unter der Fahne des Islam antraten, macht Sinn: Die Religion ist die einzige übergreifende Identität, die nach dem Schiffbruch der nationalen Versöhnung zurückblieb. Ob es ein Islam ist, der auch die Trennung zwischen Schiiten und Sunniten überbrückt, muß sich erst noch zeigen. Aber es besteht kein Zweifel, daß nach Bosnien und Tschetschenien auch in diesem von Kriegswirren traumatisierten Land die Religion als einzige sinnstiftende Ordnung übrigbleibt. Bernard Imhasly