„Eine Strafe der Götter“

■ Hans Jürgen Syberberg über das Ende des Zweiten Weltkrieges, über Umerziehung und seelische Sklaverei, sowie den Verlust der Souveränität über die eigenen Bilder

„Ein Traum, was sonst“ ist die Aufzeichnung eines Theaterprojekts, das Hans Jürgen Syberberg gemeinsam mit Edith Clever aus Anlaß des 50. Jahrestags des Kriegsendes produziert hat. Zu Bildern ostpreußischer Landschaften, aus Weimar oder Dresden und Aachen nach der Zerstörung, werden Textauszüge von Euripides, Kleist und Goethe rezitiert.

taz: In Ihrem Film „Ein Traum, was sonst“ rezitiert Edith Clever unter anderem aus „Die trojanischen Frauen“: „Dich stürzt ein Gott in das Verderben / zum Ausgleich für vergangene Glückseligkeit“. Was meint das im Zusammenhang mit dem 50. Jahrestag des Kriegsendes?

Hans Jürgen Syberberg: Euripides hat diese schönen Sätze zum Fall Trojas geschrieben; ich zeige dazu Bilder des bombardierten Dresden. Ich meine, daß unsere ganze Geschichte, speziell die Geschichte dieses Bombardements, am besten zu verstehen ist als eine Strafe der Götter. Das ist leichter zu ertragen, als wenn man es den Engländern anlastet oder gar vergibt, indem man es als Rachetat deklariert. Natürlich hatten die Engländer kein Recht, eine solche Stadt, die ja nicht nur den Deutschen, sondern der Menschheit gehört, zu bombardieren; genausowenig hätten wir das Recht gehabt, Florenz zu zerstören. Neueste Erkenntnisse legen ja übrigens nahe, daß es Churchill, der in Jalta gedemütigt wurde, nur darum ging, die Russen zu beeindrucken.

Die Strafe der Götter ist immer eine Antwort auf die Hybris der Menschen, in diesem Fall die der Deutschen, die Anmaßung – und ich sage jetzt bewußt nicht den Namen des Führers, sondern den seiner Beauftrager, der Deutschen – für die sie zur Verantwortung zu ziehen sind.

In Edgar Reitz' nun auf der Berlinale vorgestelltem neuen Film „Die Nacht der Regisseure“ sagen Sie, daß der deutsche Film mit dem Ende der nationalsozialistischen Filmindustrie 1945 am Boden lag. Was hat ihm Ihrer Meinung nach danach gefehlt?

Ganz simpel: Europa insgesamt, nicht nur Deutschland, steckt doch heutzutage in einem Dilemma; man sieht es an dem Kampf, den die für ihren Film engagierten Franzosen führen, und auch Wim Wenders hat sich diesen Kampf ja sehr zur Aufgabe gemacht: daß wir nämlich unsere Bilder verlieren. Es geht gar nicht um Territorien, sondern um mentale Kriege. Wie wollen wir leben? Wollen wir den American way of life, oder wollen wir gewisse Provinzen behalten, in denen unsere Sprache noch was taugt, zum Beispiel im Film? Wo es keine Filmförderung gibt, müssen europäische Filme in Englisch gedreht werden. Amerikaner wollen keine synchronisierten Filme sehen, auch wenn sie aus Italien kommen. Nach 1945 haben wir die Souveränität über die eigenen Bilder verloren, irgendwas soll uns seither immer verkauft werden, da ist immer eine Werbeästhetik dabei. Bei meinen Filmen lege ich darauf Wert, daß sie nicht nur autobiographische, mit meiner Person verbundene Züge tragen, sondern auch unverwechselbare Spuren des Landes, aus dem sie kommen. Ich möchte aus China auch keinen amerikanischen Film sehen.

Sie haben sich verschiedentlich ja mit denselben Themen befaßt wie Lucino Visconti: Auch er hat einen Film über Ludwig von Bayern, einen über die Nazikultur gewagt, Antonionis „La Notte“ könnte man als Pendant zu Ihrem „Die Nacht“ sehen – wo machen Sie da das spezifisch deutsche aus?

Der Unterschied gleicht dem zwischen Bach und Vivaldi: Das eine, das italienische nämlich, hat eine ganz große Geste, selbst wenn es arte povera ist, und das andere ist doch in seiner Radikalität und seiner Einfachheit sehr viel absoluter. Zum Beispiel die Szenen aus Kleists „Prinz von Homburg“, die in „Ein Traum, was sonst“ vorkommen, wo er den Tod akzeptiert und daraus einen Sieg macht – das ist zwar ein barocker Gedanke, aber das ist eben ein deutscher Sieg. Daß er diesen Sieg höher stellt, als den in der Schlacht, das ist eben ein moralischer Sieg. Nur auf dieser Grundlage konnte Auschwitz in Deutschland stattfinden; Italiener würden mit so einer Geschichte ganz anders umgehen. Die würden ihre Trauer zeigen, aber mit einer Grandezza, die dann auch nichts heißt. Die Radikalität der technischen Durchführung entspricht der Radikalität der Trauer jetzt; und darum, das muß man nun wirklich leider sagen, sind wir mit den Juden verbunden; nicht nur in der Tat, sondern eben jetzt auch in der Reue: Man weiß, daß wir das können. Kein gutes Schicksal, wenn man damit geschlagen ist.

Das paßt zu den Statements, die Sie in dem Sammelband „Die selbstbewußte Nation“ abgegeben haben. Dort sprechen Sie vom „Hochverrat in der Kunst“. Meinen Sie damit vielleicht auch die ästhetische Westbindung?

Ja. Nun habe ich das natürlich provokativ gesagt, aber warum eigentlich nicht: Im Staatsrecht gibt es das doch auch, daß sich jemand gegen die Interessen seines Landes verhält – warum soll es das nicht auch im Seelischen oder Künstlerischen geben? Wenn jemand so umerzogen wird, daß man von einer seelischen Sklaverei sprechen kann, ist keiner Seite mehr gedient, auch den Rezipienten nicht.

Was werden Sie am 8. Mai machen?

Da werde ich mich wahrscheinlich sehr ärgern. Ich war 1945 in Vorpommern, als die Rote Armee anrückte. Ich mußte die Rituale des 8. Mai einige Jahre erleben, bevor ich in den Westen ging, und zwar immer mit der Faust in der Tasche bei allen Erwachsenen um mich herum, weil sie an russischen Gräbern Kränze niederlegen mußten unter Nichtachtung dessen, daß auch Deutsche zu Tode gekommen sind. Ich hatte gesehen, wie meine Mutter und alle anderen Frauen 1945 immer mit geschwärzten Gesichtern in den Wald gingen aus Angst vor Vergewaltigung; der 8. Mai bedeutet auch den Verlust des Dorfs meiner Kindheit, den Verlust der ganzen Ostprovinzen, die Teilung Deutschlands. Er war natürlich auch für einzelne ein Termin der Befreiung, zum Beispiel für meine Mutter, die von der SS erschossen werden sollte, weil sie eine weiße Fahne rausgehängt hatte, oder für meinen Vater, der nicht im Krieg war, aber als Gutsbesitzer dennoch Angst vor den Russen hatte – aber für die gesamte Nation? Dieser Termin bedarf großer Nachdenklichkeit, nicht des Jubels.