UN-Charta von 1959 wird jetzt fast erfüllt

■ Alle Neubauten müssen künftig behindertengerecht sein – aber Arbeitsstätten und Wohnungen bleiben ausgenommen

Selbst im Krankenhaus stehen Rollstuhlfahrer zuweilen vor unüberwindbaren Hürden. Nach einer behindertengerechten Toilette suchen sie auf den Stationen oft vergeblich. Die Bauordnung schreibt nämlich nur vor, daß dort behindertengerecht gebaut werden muß, wo es Publikumsverkehr gibt. Daß Behinderte auch mal krank werden, scheint das Vorstellungsvermögen der Planer zu überfordern. Seit Jahren fordern Behindertenverbände eine Reform der Bauordnung, nun ist ein Reförmchen in Sicht. Die Bauverwaltung hat einen Entwurf vorgelegt, der einige Verbesserungen in Aussicht stellt. Bei Neubauten müssen Verwaltungsgebäude, Büros, Banken, Kultureinrichtungen und Gaststätten künftig für Behinderte zugänglich sein. Doch auch in Zukunft müssen Bereiche nur dort barrierenfrei gestaltet werden, wo sie auch öffentlich zugänglich sind. Für Altbauten gilt ein Bestandsschutz. Wird ein Gebäude umgebaut oder anders genutzt, kann verlangt werden, daß der Umbau behindertengerecht erfolgt. Die Entscheidung, ob die Mehrkosten zumutbar sind, bleibt Ermessenssache der Behörden.

Der entscheidende Kritikpunkt ist jedoch, daß die Novelle Arbeitsstätten und Wohnungen ausspart. Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) ist der Ansicht, daß es aus finanziellen Gründen nicht möglich ist, Wohnungen generell barrierenfrei zu bauen. Was die Arbeitsstätten betrifft, zieht sich sein Abteilungsleiter Jens Fenselau darauf zurück, daß die Bauordnung dies nicht regeln könne. Beim Arbeitsstättenrecht sei der Bonner Gesetzgeber gefragt. Überdies sei es Aufgabe des Landesamtes für Arbeitsschutz, für eine behindertengerechte Ausstattung zu sorgen.

An der baulichen Substanz kann diese Behörde allerdings nichts ändern. „Die Hardware eines Hauses muß so gebaut sein, daß niemand ausgegrenzt wird“, lautet die schlichte Forderung von Klaus Fischbach, einem Rollstuhlfahrer, der seit langem für barrierenfreie Gebäude kämpft.

Ein Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen, der diesen Grundsatz aufgreift und auch Arbeitsstätten miteinbezieht, liegt dem Sozialausschuß des Abgeordnetenhauses vor. Schließlich sei behindertengerechtes Bauen nur unwesentlich teurer, wenn bei Neubauten von vornherein breitere Türen, breite Aufzüge und stufenlose Eingänge eingeplant würden, so Fischbach. Zudem komme dies auch alten Menschen oder Eltern mit Kinderwagen zugute. Mit realistischem Blick auf das politisch Durchsetzbare verzichtet allerdings auch der Entwurf von Bündnis 90 auf den barrierenfreien Wohnungsbau.

Behindertenverbände stimmen zu

Die Behindertenverbände haben den Entwurf aus pragmatischen Gründen als „Kompromiß“ akzeptiert. „Wir freuen uns, daß damit endlich der Standard der UNO- Charta von 1959 erreicht wird“, erklärt Michael Eggert vom „Spontanzusammenschluß Mobilität für Behinderte“ mit leicht ironischem Unterton. Er hofft, daß die Vorlage noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird.

Die Verbände haben auch ausdrücklich begrüßt, daß sich die Bauverwaltung von Sicherheitsvorschriften verabschiedet, die Behinderten die Teilnahme am kulturellen Leben zusätzlich erschweren. Bisher durften nicht mehr als vier Rollstuhlfahrer gleichzeitig ins Theater oder Kino. Mehr könne die Feuerwehr im Notfall nicht retten, so die Begründung. Künftig müssen Behinderte ebenso wie alte Leute und Kinder auf die Hilfe von Besuchern oder Angestellten rechnen können. Dorothee Winden