■ Schriften zu Zeitschriften
: Altern mit Madonna

Im letzten Herbst gab es zarte Ansätze zu einer Generationendebatte im deutschen Feuilleton, in der die „Neunundachtziger“ gegen die „Achtundsechziger“ standen. Es wollte sich aber so recht niemand daran beteiligen: die Neunundachtziger können sich nicht darüber einigen, ob sie ein gemeinsames Generationserlebnis haben, und den Achtundsechzigern, die sich einmal sicher waren, eines zu haben, wird zusehends unklarer, welche Schlüsse man aus ihm ziehen darf. Der Alltag stellt sich diesem Thema natürlich nicht, wie es überhaupt seine nun schon in über fünfzehn Jahren bewährte Widerstands-Tugend ist, sich die Themen nicht von den Feuilletons vorlegen zu lassen. Oder wenn schon die Themen, dann doch nicht den Zugang dazu. Wem es eine Erleichterung ist zu wissen, daß ihn bei einem Sonderheft zur Generationenproblematik kein Pro/Contra 89/68 erwartet, dem sei die neueste Nummer des Alltag empfohlen.

Ein Kernstück darin ist der ungemein kenntnisreiche Aufsatz der Politikwissenschaftlerin Karin Wieland über Madonna, ein Beispiel für einen Umgang mit der populären Kunst, der sich von dem alten Spiel der Differenzen (U- gegen E-Kultur, legitime gegen illegitime Kunst) gelöst hat. Hier wird eine der interessantesten Künstlerinnen der Gegenwart ohne kulturkritische Herablassung, aber auch ohne die Streberattitüde mancher Poptheoretiker beschrieben. Es geht um das Älterwerden mit Madonna und um Madonnas Älterwerden. Wielands Madonna-Lektüre vernachlässigt zwar die Musik ein wenig, aber dafür liefert sie eine brillante Deutung der neuesten Heimholungsstrategie, mit der Madonna in den Kreis der besonders wertvollen Kulturschaffenden eingemeindet werden soll – die Sex/Gender-Debatte: „Alle sind anders, und deswegen sind alle gleich, lautet die Botschaft dieser Idee der sexuellen Harmlosigkeit, die nur von amerikanischen Puritanerinnen ersonnen werden konnte. Der Glaube an sieben oder zehn Geschlechter führt geradewegs ins Paradies.“ Wieland sieht diese Debatte als neue „amerikanische Zivilreligion“ und kann zeigen, wie Madonna ihren fürsorglichen Verfolgerinnen bereits entkommen ist.

Stephan Wackwitz berichtet von den Erkenntnissen, die ein Vater mit seinem Sohn am Sandkasten machen kann. Es geht dabei um nichts Geringeres als die „Entstehung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, und auch dieser Text von Wackwitz ist ein glückliches Zwischenwesen – Erfahrungsbericht, gelehrter Essay und politischer Traktat zugleich. Jörg Lau

„Der Alltag. Wie alt bin ich ?“, Nr. 66, Elefanten Press, Dezember 94, 190 S., zahlreiche Fotos, 25 DM