Dr. Bolaffis angenehme Diagnose

Der italienische Politikwissenschaftler wendet sich liebevoll den „schrecklichen Deutschen“ zu / Aber sind es nicht doch zu viele Beruhigungspillen?  ■ Von Christian Semler

Nehmen wir an, ein illustres deutsches Wissenschaftlergremium, unterstützt von einer Breitseite des Spiegel, würde den USA ihren baldigen Untergang prognostizieren. Ein kleiner Wellenschlag ans Eiland Manhattan, ansonsten null Reaktion. Man stelle sich vor, welche Panik ausbräche, wenn die Prognose in umgekehrter Richtung erfolgen würde! Das Größenverhältnis zwischen den beiden Staaten bietet nur einen Teil der Erklärung. Wahr ist: Noch immer schwanken wir in Deutschland zwischen Selbstüberhebung und Mutlosigkeit, globaler Belehrungssucht und Inferiorität. Noch immer beschäftigt uns eine Frage, die anderen Völkern absurd erschiene: Wer sind wir eigentlich?

Mit seinem Essay „Die schrecklichen Deutschen“ nähert sich der römische Politikwissenschaftler Angelo Bolaffi, seit Jahrzehnten teilnehmender Beobachter der deutschen Geschicke, unserem permanenten Krankenbett — und dies in eindeutig therapeutischer Absicht. Er ermuntert uns, „normal“ zu sein. Zum ersten Mal, sagt er, stimmen in Deutschland Geographie und Politik überein. „Der heutige Staat ist nicht nur der einzig realistisch denkbare, sondern auch der von den Deutschen gewünschte“. Das deutsche Terrain wurde nach 1945 umgepflügt, der traditionellen deutschen Ideologie, Wanderer und Mittler zwischen Ost und West sein zu wollen, der Nährboden entzogen. Adenauer legte den Grundstein des „Verwestlichungsprozesses“, die 68er-Linken führten ihn, ganz gegen ihre politische Absicht (sie waren ja sozialistische Revolutionäre) in den Tiefen der Gesellschaft fort. Jetzt gilt es, an ihm festzuhalten und den Verlockungen zu widerstehen, die sich aus einem diesmal pazifistisch und antiamerikanisch interpretierten deutschen Sonderweg ergeben könnten.

Bolaffi polemisiert in weiten Teilen seines Essays gegen die Spezialität der linken deutschen Intelligenz, aus der deutschen Geschichte einen unentrinnbaren Katastrophenzusammenhang zu konstruieren. Auschwitz, so Bolaffi, diente diesen Linken als Argument, die deutsche Teilung zu legitimieren, wie sie auch dem revolutionären Aufbruch des DDR- Volks 1989 fremd und feindlich gegenüberstanden. Und wie sie, einst geschworene Feinde der „restaurativen“ bundesrepublikanischen Verhältnisse, jetzt die untergegangene BRD als Hort der Zivilität preisen — gegen die Neuauflage des deutschen Nationalstaates. So treffend diese Philippika die meisten unserer Meisterdenker und -poeten charakterisiert, Bolaffis Arznei, ein geläuterter Patriotismus, verschafft wenig Linderung.

Er empfiehlt, das ius sanguinis durch das ius soli, die Blutsbande durch Bürgerbande zu ersetzen. Schön und gut, aber was wäre das anderes als der Verfassungspatriotismus, den Bolaffi als dünne Suppe schmäht? Was soll die Essenz dieses Bolaffischen Patriotismus sein, wenn nicht der Appell an Gemeinsinn und Solidarität, und zwar lokal, gesamtstaatlich (als friedliche Lösung der deutschen Einheitsprobleme) und universell (als gerechter Ausgleich zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden)? Und sind das nicht Postulate, die der Welt des Gesellschaftlichen entstammen, der „civil society“, und mit der Idee des Nationalstaats nur locker zusammenhängen? Eigentlich müßte Bolaffi die Frage beantworten, wie die „primordialen“, im Reich der Emotionen und des Kollektivgedächtnisses angesiedelten Elemente deutscher Selbsteinschätzung „aufgehoben“ werden können in dieser Idee eines zivilen, friedlichen Deutschland. Obwohl der Autor hervorhebt, daß wir Deutschen noch weit von der „Normalität“ entfernt sind, lehnt er es ab, auf die ebenso notwendigen wie erbitterten Auseinandersetzungen in Deutschland seit 1992 einzugehen.

Rostock und Solingen, Hoyerswerda und Mölln kommen auch in der deutschen Auflage seines Buches nicht vor, wie er auch jede direkte Kritik an der deutschen Regierungspolitik seit 1992 vermeidet. Ohne diese Auseinandersetzungen kann sich Friedfertigkeit, kann sich dialogisches Bewußtsein nicht bilden. Und in eben diesen Kämpfen sind es die von Bolaffi zu Recht als vergangenheitsfixiert gescholtenen Linken, die, oft mit hirnrissigen Parolen und untauglichen Aktionsformen, eine menschliche Gesellschaft verteidigen. Und nicht Michael Stürmer oder Joachim Fest, die in Bolaffis Argumentation zu Kronzeugen einer richtig verstandenen „Normalität“ deutscher Verhältnise aufrücken.

Bolaffis Bild demokratischer „Normalität“ ist zu statisch. Fast scheint es, als würde sich bei ihm, die Fortführung des gegenwärtigen, auf „höchster Produktivität und stärkster sozialer Integration“ basierenden „rheinischen Modells“ vorausgesetzt, das Schiffchen des vereinten Deutschlands auf sicherem Zukunftskurs bewegen. Als wäre, allen Solidaritätsbeiträgen und Transfers zum Trotz, die soziale Integration nicht in höchster Gefahr — dank der Politik des Einheitskanzlers.

Als Beispiel eines gesellschaftlich verankerten, sozialen Patriotismus evoziert Bolaffi die Figur Willy Brandts und entrückt sie gleichzeitig in einem Ausmaß, das die schreckliche Witwe Willys nur mit blassem Neid erfüllen kann. Es ist gut von Bolaffi gemeint, aber die Heroisierung Brandts dient seinen therapeutischen Zielen ebenso wenig wie die Feier der Weimarer Republik als Zukunftsstaat. Fürs erste kein Bedarf mehr an Helden und Modellen.

Angelo Bolaffi: „Die schrecklichen Deutschen. Eine merkwürdige Liebeserklärung“. Berlin 1995, Siedler Berlin, 206 S., 34 DM