"Das Rote Kreuz sollte umdenken"

■ Der Berliner DRK-Präsident und ehemalige NS-Marinerichter Hartwig Schlegelberger wurde noch Anfang 1945 befördert / Interview mit Ingo Müller, Autor des Buchs "Furchtbare Juristen"

Der Betriebsrat des Berliner Roten Kreuzes (DRK) fordert in einem gestern verabschiedeten offenen Brief eine Auseinandersetzung über die Vorwürfe gegen den Berliner Verbandspräsidenten, Hartwig Schlegelberger. Dem 81jährigen CDU-Politiker wird vorgeworfen, während der NS- Zeit als Marine-Stabsrichter und Staatsanwalt an Todesurteilen und Hinrichtungen von Wehrmachtssoldaten als „Fahnenflüchtigen“ und „Wehrkraftzersetzern“ mitgewirkt zu haben. Der langjährige ehemalige schleswig-holsteinische Innen- und Finanzminister Schlegelberger, der gegenüber der Presse jegliche Stellungnahme ablehnt, will vor dem heute tagenden DRK-Präsidium Stellung nehmen. Es wird erwartet, daß sich das Präsidium hinter seinen Präsidenten stellt.

Die Senatsverwaltung für Soziales bestätigte unterdessen eigene Erkundungen über Schlegelbergers Vergangenheit. Danach wurde Schlegelberger noch kurz vor Kriegsende, am 1. 1. 1945, zum „Marineoberstabsrichter der Reserve“, einem gehobenen Dienstgrad, befördert. Die Nachforschungen der Senatsverwaltung wurden bereits im November 1994 nach internen Hinweisen aus dem DRK veranlaßt. Christoph Dowe

Als einer der wenigen Autoren hat Ingo Müller die Rolle der Justiz in der NS-Zeit thematisiert. Sein Buch „Furchtbare Juristen“ löste Ende der achtziger Jahre eine breite Diskussion aus und ist mittlerweile in sechster Auflage erschienen. Der 52jährige ist Professor an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Hamburg.

taz: Das Rote Kreuz sieht keinen Anlaß, sich von Schlegelberger zu trennen. Das DRK will nicht handeln, solange keine wirklich neuen Fakten vorliegen. Der 81jährige habe seine Vergangenheit bereits vor Jahren öffentlich gemacht.

Ingo Müller: Es war doch hinlänglich bekannt, was die Wehrmachtsjustiz verbrochen hat. Wie keine andere Gruppe der Nazijuristen hat sie es allerdings nach dem Krieg verstanden, Kontakt zu halten und über eine geschickte Öffentlichkeitsarbeit sich reinzuwaschen. Jahrzehntelang wurde der Mythos der Wehrmachtsrechtsprechung als Fels der Rechtsstaatlichkeit im Meer des Nazi-Rechts verbreitet. Während andere Bereiche der Justiz schon enttarnt waren, hieß es dort noch immer: Wir waren hart, aber gerecht.

Die Kontinuität scheint ja ungebrochen, wenn es um die Anerkennung der Deserteure geht.

Immerhin hat das Bundessozialgericht 1992 entschieden, daß die Wehrmachtsjustiz ein Unrechtsinstrument war und ein zum Tode verurteilter Deserteur daher als Gegner der NS-Herrschaft gefallen ist. Daß sich nun die CDU bis heute sträubt, diese aufsehenerregende Entscheidung in ein Gesetz umzugießen, steht leider auf einem anderen Blatt.

Herr Schlegelberger erklärt, soweit er als damaliger Staatsanwalt Todesurteile beantragt habe, habe dies dem damaligen Rechtszustand entsprochen.

Das ist ja das Schlimme: Daß solche Leute den Unrechtszustand nicht anerkennen wollen, dem sie gedient haben. Die Wehrmachtsjustiz hat, wie neuere Untersuchungen belegen, einen großen Leichenhaufen hinterlassen. Die Urteile waren in der Mehrzahl politischer Natur. Wenn eine vertrauensvolle Mitteilung an einen Freund damals als öffentliche Wehrkraftzersetzung oder Feindbegünstigung gewertet wurde, dann kann ich nur von einer Skandaljustiz sprechen.

Schlegelberger selbst will an keinen politischen Urteilen beteiligt gewesen sein. Statt dessen spricht er von Verfahren wegen Fahnenflucht.

Offenkundig faßt er den Bereich des Politischen sehr eng. Natürlich: Wenn man darunter nur kommunistische Agitation versteht, dann war der Zweifel am Endsieg – der als Feindbegünstigung oder Wehrkraftzersetzung eingestuft wurde – eine unpolitische Äußerung. Insgesamt aber war die Wehrmachtsjustiz doch hoch politisch. Sie trieb die Kriegsmüden an und merzte sogenannte zersetzende Elemente aus.

Das DRK verweist darauf, daß Schlegelbergers Vergangenheit intern schon vor Jahren diskutiert wurde. Die neuen Erkenntnisse, die im „Spiegel“ veröffentlicht wurden, änderten nichts daran.

Auch nach dem Krieg hat man die Fakten zunächst anders beurteilt. Ich erinnere daran, daß die Judenvernichtung zunächst als Kriegsverbrechen bezeichnet wurde. Dort wie in so vielen anderen Bereichen setzte ein Bewertungswandel ein, der schließlich in den letzten Jahren auch die Rolle der Wehrmachtsjustiz ergriff. Ich würde dem DRK daher raten, dringend umzudenken und sich von Männern wie Schlegelberger zu trennen.

Der Berliner DRK-Landesgeschäftsführer Eberhard Bauer hält die Vorwürfe gegen Schlegelberger für rechtswidrig, unmoralisch und inhuman. Seiner Ansicht nach wäre der Fall längst erledigt, wenn es je zu einem Gerichtsverfahren gekommen und der DRK-Präsident freigesprochen worden wäre.

Das ist doch eine unzulässige Entschuldigung. Der Skandal ist ja gerade, daß alle NS-Richter freigesprochen wurden. Heutzutage müßten sie natürlich verurteilt werden, wenn man allein schon die Maßstäbe anlegt, die bei Prozessen gegen DDR-Richter angewandt werden. Und das, obwohl der Rechtszustand in der DDR längst nicht so brutal war wie im Dritten Reich. Interview: Severin Weiland