Rudern mit Rudolf

■ Parteiinterne Kritik am Führungsstil Rudolf Scharpings mehrt sich

Bonn (taz) – Von seiner Partei wurde er mit geradezu traumhafter Solidarität bedacht. Seinen Start in Bonn begleiteten die Medien mit Vorschußlorbeeren. Immerhin handelt es sich bei der „Machtmaschine“ Scharping (Bild) um den ersten SPD-Chef, der direkt vom Parteivolk erwählt wurde. Vier Monate ist Rudolf Scharping nun amtierender Chef der SPD-Bundestagsfraktion und Oppositionsführer. Inzwischen allerdings grummelt es in der Fraktion: „Wir haben Probleme, uns Themen zuzuwenden“, sagt eine Abgeordnete. „Lange können wir uns diesen Zirkus nicht mehr leisten.“

Die jüngste Nummer spielt in der Außenpolitik. Als die Nato im Dezember erstmals anfragte, ob Bonn den Abzug von Blauhelmen aus Ex-Jugoslawien mit Tornados unterstützen werde, schwenkte Scharping recht bald auf das grundsätzliche Ja der Bundesregierung ein. Doch das scheint nicht mehr zu stimmen. In einem Interview erklärte der SPD-Chef: „Tornados erhöhen das Risiko. Wir wollen keine Eskalation und keinen Krieg. Daran werden wir uns nicht beteiligen.“ Und aus der Partei ist zu hören, daß Scharping die SPD bis zum Parteitag im November auf weitestgehende Zustimmung zum Bundeswehr-Einsatz verpflichten will – etwa auf der Linie des SPD-Linken Christoph Zöpel, der Bosnien kürzlich als „Angelegenheit der inneren Sicherheit Europas“ bezeichnete. Wenn die Partei diese Definition von Innenpolitik akzeptiere, sagt einer aus Scharpings Think-Tank, „dann haben wir freien Blick aufs Mittelmeer.“

Nur weiß noch niemand in Partei und Fraktion, was ihn dort erwartet. Wer fragt, was Scharping will, sieht ratlose Gesichter. Zu hören ist, was Scharping anspricht: Zukunft der Arbeit, Steuer- statt Beitragsfinanzierung für sozialversicherungsfremde Aufgaben. Besser bekannt als ein Programm sind seine Schnitzer: Kaum als Fraktionschef gewählt, drohte Scharping den Genossen in Mecklenburg-Vorpommern „einen Riesenkrach“ an, falls sie eine Zusammenarbeit mit der PDS planten. Der Schweriner Landeschef Ringstorff verbat sich die ohnmächtigen Machtworte aus Bonn. Den weitgehenden Abgrenzungsbeschluß zur PDS, den Scharping sich gewünscht hatte, bekam er nicht. Im Beschluß des Parteivorstands vom Dezember werden nur Koalitionen mit der PDS in Bund und Ländern untersagt.

Bei seinem ersten Bundestagsauftritt stahl ihm Joschka Fischer die Schau. Nicht Scharping, sondern der Grüne hielt eine mitreißende Rede. Und es kam noch schlimmer: Die Grünen gingen wegen Scharpings Halsstarrigkeit zum ersten Mal ein Zweckbündnis mit der Union ein: Weil die SPD keinen ihrer beiden Sitze im Bundestagspräsidium für Antje Vollmer räumen wollte, wurde im November die erste grüne Vizepräsidentin von der Union gewählt.

Auch Scharpings gerühmte Fähigkeit, strategische Posten mit seinen Leuten zu besetzen, wollte sich zunächst nicht recht entfalten. Die „Machtmaschine“ stotterte. Scharpings Kandidat Gerd Andres, Sprecher der „Seeheimer“, fiel bei der Wahl der Parlamentarischen Geschäftsführer durch. Verwunderung auch über das Engagement des neuen Chefs für den Ex-Grünen Otto Schily, der als einer seiner sechs Stellvertreter ein Signal fürs grüne Lager setzen sollte. Über die Nominierung seines Vorgängers Klose als Bundestagsvizepräsident soll er absolut unglücklich sein. Unglücklich waren auch die Fraktionsfrauen, für die es in der Riege der Vize-Fraktionschefs nur noch zwei zu vier steht. Und die neue Planungsgruppe der Fraktion, die für den Chef vordenken soll, ist nach Meinung von Insidern zu klein für die große Aufgabe.

So erledigt Scharping die Arbeit der Zuspitzung allein – zum Beispiel Ende November in Tutzing. Da sprach er vor dem Seeheimer Kreis unter anderem über die „Modernisierung des Sozialstaats“ und erwähnte das „Spaltungspotential“, das die CDU-Debatte um den Mißbrauch von Sozialleistungen in die SPD-Anhängerschaft trage. Die SPD dürfe nicht „als Partei der Bewahrung von Strukturen und als ewig gestrig“ gelten. Obwohl Scharping bald zurückruderte und betonte, den wesentlichen Mißbrauch betrieben Unternehmer, die Subventionen erschlichen und illegal Jobs vergäben: Der Verdacht war in der Welt, daß Scharping selbst mit dem konservativen Schlagwort vom Sozialmißbrauch auf Jagd nach jenen Wählern weiter rechts gehen möchte, die nach herrschender Wähleranalyse als einzige noch für die SPD zu gewinnen sind.

Ein „primitives Wählermodell“ nennt das der Parteilinke und Ex- MdB Albrecht Müller. Es erkläre das Wahlvolk für unveränderbar. „Ende der sechziger Jahre gab es eine klare Mehrheit gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Die SPD hat dagegengehalten. Heute macht sie auf vielen Feldern der Politik in absoluter Verzagtheit keinen Versuch mehr, Menschen zu überzeugen.“

In Bonn geht das Gerücht um, daß Scharping vielleicht weniger auf Programm als auf ein großes Vorbild setze: Auch Helmut Kohl gab im Oktober 1976 nach verlorener Bundestagswahl sein Mainzer Ministerpräsidentenamt auf, ging – wie Scharping nur von Sekretärin und persönlichem Referenten begleitet – als Oppositionsführer nach Bonn und war bei der Organisation der Fraktion zunächst ebenso wenig glücklich. Über seine erste Rede als Fraktionschef spottete ein unionsnaher Journalist: „Der ,Schwarze Riese‘ hat keine Bäume ausgerissen.“ Möglich, daß sich Parallelen mehren. Kohl jedenfalls war sechs Jahre später Kanzler. Andrea Dernbach