Unruhe und Liebe – ja, Liebe

Seine Dramen sind Sittenbilder des Lebens im Faschismus und wurden in Ost und West vernachlässigt. Gestern hatte Alfred Matusches „Regenwettermann“ im theater 89 Premiere  ■ Von Dirk Nümann

Er war einer der bemerkenswertesten Dramatiker Nachkriegsdeutschlands – leider hat ihn kaum jemand bemerkt. Verspätet und unvollständig erschienen seine Stücke, in der BRD wurde er nie, in der DDR nur selten aufgeführt. Alfred Matusche: ein Dramatiker ohne Bühne.

Im Westen interessierte sich wohl deswegen niemand für Matusche, weil seine sperrigen Stücke nicht die Doktrin vom Sozialistischen Realismus belegten. Man konnte ihn auch nicht als Systemgegner gebrauchen: zu proletarisch, antibürgerlich. Und nie exponierte er sich in kulturpolitischen Debatten wie Heiner Müller & Co. So hielt man sich doch lieber an die Biermanns und Rathenows, statt sich mit Matusches einzigartigen Sittenbildern des Lebens im Faschismus auseinanderzusetzen.

Im Osten bemäkelten die Ideologen, daß seine unkonventionellen „lenzischen“ Stücke nicht dazu dienen, „einen richtungsweisenden Beitrag für die sozialistische Gegenwartsdramatik“ zu leisten. „Die Dorfstraße“, ein Appell für ein friedliches Miteinander von Deutschen und Polen nach Kriegsende, offenbare eine „gewisse dramaturgische Konfusion“. – „Van Gogh“, ein wunderbares Stations- und Künstlerdrama, sei zu „subjektivistisch“. – „Kap der Unruhe“, in dem Kranführer Kap sich gegen gesellschaftliche Stagnation in der neugebauten Stadt wendet, fand man „ideologisch nicht ganz klar“, der Titelheld trage „anarchistische Züge“.

Leicht hat es Matusche sich und seinen Interpreten nicht gemacht. „Kompromißlos bis zur Selbstzerstörung“ soll er gewesen sein, eine „echte Sturm-und-Drang-Gestalt“, unbehaust, eigenbrötlerisch, geradezu legendär unbequem: ein Idealist, der sich nicht gemütlich bürgerlich einrichten wollte im Sozialismus.

Geboren wurde er 1909 in Leipzig, Schlosserlehre, einige Semester Maschinenbaustudium, Arbeitertheater, Wanderjahre, erste Gedichte, Hörspiele. Ab 1933 in Schlesien, verfolgt, Widerstand, ab 1945 freier Schriftsteller, von Brecht gelobt, am Existenzminimum. Leipzig, Berlin, Brandenburg, Karl-Marx-Stadt. Dort starb er 1973. Mit einem Verweis auf diese Biographie schmetterte er jede Kritik an seinem Werk ab: „Es ist alles wahr. Ich habe es so beschrieben, wie ich es gesehen und erlebt habe.“

Gerade mal dreizehn kurze Stücke und Hörspiele aus den letzten zwanzig Lebensjahren sind bekannt, das Frühwerk ist vernichtet; Gedichte, Varianten, Notizen, Gespräche sind bisher unveröffentlicht, politische Stellungnahmen zurückgehalten: Die Zeit sei noch nicht gekommen, „um alle seine Äußerungen zu verkraften“, schrieb Nachlaßverwalter Armin Stolper 1977. Doch das schmale Werk ist gewichtig: Matusche gebührt einer der vordersten Plätze in der Nachkriegsliteratur, der sozialistischen Literatur; darüber hinaus stehen seine schön-schwierigen Dramen in einer Reihe mit dem Werk Ernst Barlachs, Else Lasker-Schülers oder Marieluise Fleißers.

Die Schönheit seiner Stücke ist zuallererst die Schönheit der Sprache: lyrisch, verknappt, rhythmisch. Mit drei Sätzen skizziert er einen Charakter: wunderbar komplizierte Frauen – und Männergestalten. Oft entstehen durch scheinbar banale Bemerkungen zarte, herbe oder auch lustige Grundstimmungen, die sich in kurzen Szenenwechsel atmosphärisch verdichten und die Stücke balladesk und volkstheaterhaft färben.

Die Sprache treibt dabei keine Handlung voran, sondern drückt innere Spannung aus: Unruhe, Lust, Träume, Gedanken, Liebe – ja, Liebe. Nicht selten sind gerade die politisch brisantesten und heute so aktuellen Stücke auch große Liebesgeschichten. Und immer gibt es Musik bei Matusche. Ein Akkordeonspieler wandelt durch die Szene, „La Traviata“ klingt aus der Musiktruhe oder ein kleiner Junge im zu großen Mantel steht im Regen und singt einen anrührenden Kinderreim.

Schwierig sind die Stücke, weil die Sprach-Welt so real ist, weil Matusche Menschen in historischen Wendesituationen beschreibt: Kommunisten, Faschisten; Mitläufer, Widerstandskämfer, Polen, Deutsche, Juden, Methodisten, Pfarrer, Dienstmädchen, Gutsbesitzer, Arbeiter, Lehrer, Sargtischler.

So spielt seine Trilogie zum Faschismus („Das Lied meines Weges“, „Der Regenwettermann“, „Die Dorfstraße“) einmal am Tag von Hitlers „Machtergreifung“, einmal am Tag des Überfalls auf die UdSSR und einmal am Tag der Befreiung durch die Rote Armee. An diesen historischen Drehpunkten müssen sich auch die Figuren bei Matusche entscheiden; er treibt sie in geradezu tragische Konflikte von antikem Format, die zumeist tödlich enden. So verweigert im „Regenwettermann“ der deutsche Soldat Gleß die Ermordung von Juden, indem er die Waffe gegen sich selbst richtet. Er tötet sich und dient damit doch dem Leben.

Die Hoffnung, daß der Mensch sich wandeln möge, drückt sich in einer dritten Ebene der Stücke aus. Über den sinnlich-volkstheaterhaften und den historisch-tragischen Elementen liegt eine Symbolschicht: Naturgewalten wie Regen, Sonne, Schnee oder Sturm verweisen in jedem von Matusches Dramen auf den Kampf des Menschen gegen sich selbst. Nicht selten nutzt er auch religiöse Gleichnisse, und ganz falsch ist es deswegen nicht, seine Gestaltungskraft seherisch und expressionistisch zu nennen: angetrieben von einem Hoffnungs- und Versöhnungs- und Wandlungsgedanken.

Die Schwierigkeit für die Theater besteht darin, die unterschiedlichen Ebenen in der Balance zu halten. Statt vordergründigem Naturalismus muß die Sprache zum Klingen gebracht werden. In diesen Monaten gehen zwei Bühnen dreimal das „Risiko Matusche“ (Christoph Schroth) ein. Im theater 89 hat heute der „Regenwettermann“ Premiere, für den Mai ist dort eine Inszenierung von „Welche, von den Frauen?“ angekündigt, und das neue theater in Halle plant „Van Gogh“ für April. Und sollte das immer noch nicht genügen, um Matusches Dramen durchzusetzen – egal, sie können warten. Denn wenn alle schon vergessen haben werden, wer Lutz Rathenow und Wolf Biermann gewesen sind: Alfred Matusche wird bleiben.

Das Werk Alfred Matusche ist im Vertrieb des Theaterverlags „henschel Schauspiel“, die nächsten Aufführungen von „Der Regenwettermann“ in der Inszenierung von Hans-Joachim Frank im theater 89 (Torstraße 216, Mitte) sind von 24. bis 26. 2., 20.30 Uhr, Besprechung morgen.