Das System der Staatspartei schlägt zurück

■ betr.: „Zedillo pokert, Marcos ver steckt sich“ (Tagesthema), taz vom 11./ 12. 2.95

Seit der Nacht zum 10. Februar rücken Tausende mexikanischer Soldaten in die Selva Lacandona im südlichen Bundesstaat Chiapas vor, angeblich um fünf Haftbefehle gegen EZLN-Subcomandantes zu vollstrecken. Wieder sind ganze Dorfgemeinden auf der Flucht vor dem Militär, wieder werden ganze Täler nach „Subversiven“ durchkämmt, und wieder hat die unabhängige Presse keinen Zugang. Doch im Gegensatz zum zapatistischen Überraschungscoup vom 1. Januar 1994 ist das mexikanische Heer jetzt nicht nur viel massiver präsent, es ist weitaus besser vorbereitet: Spätestens seit Mitte letzten Jahres sind die jetzt eingesetzten Sondereinheiten von in jahrzehntelangen Militärdiktaturen erfahrenen argentinischen und wahrscheinlich auch chilenischen Generälen und Ex-Generälen, die sich seit August/September als „Militärattachées“ in Mexiko aufhalten, im Antiguerilla-Nahkampf ausgebildet worden.

Und auch in anderer Hinsicht hat der mexikanische Sicherheitsapparat „gelernt“: Statt frontal und undifferenziert gegen das EZLN und gegen ihnen nahestehende Campesino- und Indígena- Organisationen vorzugehen, konzentrieren sich die polizeilichen, paramilitärischen und militärischen Aktionen auf die Isolierung und Festnahme bzw. das „Verschwindenlassen“ der externen AnführerInnen, BeraterInnen oder SprecherInnen dieser Organisationen. Diese Strategie zeigt sich darin, daß seit der martialischen Fernsehansprache von Präsident Zedillo ganz gezielt gegen RepräsentantInnen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Menschenrechtsgruppen und Campesino- und Indígena-Organisationen vorgegangen wird, und das nicht nur in Chiapas, sondern in ganz Mexiko. Bezweckt wird damit nicht eine Zerschlagung der vielfältigen und zahlreichen sozialen und politischen Oppositionsbewegungen Mexikos an sich, sondern ihrer Verknüpfungspunkte und Bindeglieder. Solange eine Campesino-Organisation irgendwo in Chiapas um Land kämpft und dafür eine Kaffeeplantage besetzt, in Oaxaca ein Bündnis indianischer Dorfgemeinden Territorialautonomie einklagt und die PRI-Kaziken aus den Bürgermeisterämtern drängt und in Tabasco die Oppositionspartei PRD ebenso unermüdlich wie erfolglos die Ablösung eines korrupten Gouverneurs fordert, kann für das System der Staatspartei alles beim Alten bleiben: Großzügig werden Teilkonzessionen eingeräumt, Anführer gekauft oder bei „Autounfällen“ beseitigt, während gegen die weiterhin „Uneinsichtigen“ paramilitärische Truppen eingesetzt werden. Dieses seit über 70 Jahren funktionierende System von „Zuckerbrot und Peitsche à la PRI“ gerät jedoch dann in die Krise, wenn permanente Kanäle zwischen den verschiedenen Protestbewegungen geschaffen werden, die nicht nur einen gegenseitigen Erfahrungsaustausch im Kampf gegen die Staatspartei ermöglichen, sondern auch die Formulierung gemeinsamer Forderungen und Strategien erlauben. Die Zusammenführung von AkteurInnen großstädtischer und ländlicher Bewegungen hat sich – schon vor dem Auftreten des EZLN – durch die Arbeit von NGOs und Menschenrechtsorganisationen in verschiedenen ländlichen Gebieten Mexikos, aber auch durch Migrationserfahrungen und durch die Entstehung dissidenter Lehrergewerkschaften in Stadt und Land herausgebildet. Wichtigstes Ergebnis ist für die ländliche Bevölkerung, aber auch für die BewohnerInnen urbaner barrios und Slums die gemeinsame Erkenntnis, über gewisse BürgerInnen- und Menschenrechte zu verfügen, die ihnen unabhängig vom Wohlwollen und Gutdünken der Staatspartei und ihrer korporativen Organisationen zustehen. Dank externer Unterstützung und vor allem rechtlicher Beratung beginnen die dissidenten Organisationen daher, direkt vom Staat Rechte einzuklagen, statt noch länger vom Parteiapparat assistentialistische Hilsfmaßnahmen zu erbetteln.

Der symbolträchtige Aufstand der EZLN bildet nur den sichtbarsten Ausdruck dieser Befreiung von korporativen Zwängen. Seitdem versuchen zahlreiche Organisationen unter anderem der Campesino-, Indígena, Frauen- und Stadtteilbewegung, aus ihrer jahrzehntelangen politischen Isolierung und ihrem Nischendasein durch eine breite Sammlungsbewegung, der EZLN angeregten Convención Nacional Democrática (CND), herauszukommen. Trotz der Ausarbeitung eines umfangreichen, pluralen Regierungsprogrammes ist es der CND jedoch bisher nicht gelungen, sich in eine politische Alternative zum PRI- Apparat und seinem Reigen loyaler Pseudoparteien zu verwandeln. Um vor allem die organisatorische Schwäche der CND und ihrer Mitgliederorganisationen zu überwinden, wurde auf der dritten Konvention in Querétaro am vorletzten Wochenende beschlossen, die in ganz Mexiko präsente Organisationsstruktur der PRD auszunutzen und mit deren Parteibasis zusammen eine „Nationale Befreiungsbewegung“ unter der symbolträchtigen Führung des von der PRD-Spitze fallengelassenen ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Cárdenas zu bilden. Dies wäre der Gründung einer politischen Oppositionsbewegung gleichgekommen, die zwar dank der PRD- Parteistrukturen in ganz Mexiko präsent gewesen wäre, sich aber – im Unterschied zur PRD-Spitze – nicht mehr an den offiziellen „Wahl- und Wahlreformspielchen“ beteiligt hätte und somit zu seiner realen Gefahr für die Staatspartei geworden wäre.

Indem das PRI-System jetzt plötzlich massiv und gewaltsam nicht nur gegen die maskierten Subcomandantes des EZLN vorgeht, sondern ebenso gegen NGO- VertreterInnen, MenschenrechtlerInnen, OppositionspolitikerInnen, JournalistInnen, UniversitätsdozentInnen und in der „Zivilgesellschaft“ engagierte Intellektuelle, demaskiert es gleichzeitig die Stoßrichtung von Zedillos „Säuberungswelle“: Die Rettung der hegemonialen Staatspartei als angeblich einzigem Garanten wirtschaftlicher und politischer Stabilität im Lande. Da der vom neoliberalen Dogma 1982 angeordnete Rückzug des Staates im Zuge einer Privatisierungs- und Ausverkaufswelle ungeahnten Ausmaßes auch die korporativen Kontrollinstanzen der vertikalen PRI-Gewerkschaften und -Verbände geschwächt hat, bleibt für einen Machterhalt im Gegensatz zu früheren Zeiten nur noch der Rückgriff auf blanke Gewalt.

Diese schon in den ersten Januartagen des letzten Jahres erprobte Strategie „Bomben gegen Bauern“ mußte aus mehreren Gründen damals aufgegeben werden: Zum einen war die Armee nicht auf einen aufwendigen Kampf in der Selva vorbereitet. Hinzu kam, daß in einer Vorwahlsituation und angesichts des massiven spontanen Protestes nicht nur im eigenen Land, sondern weltweit ein langwieriger Krieg gegen die eigene, marginalisierte Bevölkerung kaum mit der Unterstützung der US-Regierung rechnen konnte, die selber wegen der allgemeinen Skepsis gegenüber dem mexikanischen Nafta- Beitritt sowieso schon mit dem Rücken an der Wand stand.

Die Situation hat sich seitdem entscheidend geändert. Dank der geschickten Ausnutzung politischer und wirtschaftlicher Faktoren konnte das PRI-System verlorenen Handlungsspielraum auf internationaler Ebene zurückgewinnen: Ein weiteres, aber wohl letztes Mal gelang es dem Staats- und Parteiapparat, der um die innenpolitische „Stabilität“ Mexikos besorgten Weltöffentlichkeit die Inszenierung „freier Wahlen“ vorzugaukeln. Die seit Monaten überfällige Währungsabwertung und der spätestens danach deutlich zutage tretende spekulative Charakter des an der mexikanischen Börse bloß „geparkten“ Auslandskapitals konnten bis zur Amtsübergabe an den angeblichen Wahlsieger Zedillo herausgezögert werden. Aus beiden Umständen, der internationalen Anerkennung und Legitimation des PRI-Wahlsiegers und der absichtlich abrupt herbeigeführten Peso-Krise, erhielt das Regime plötzlich eine ungeahnte „Vogelfreiheit“: Aus purem Egoismus, zum Schutz der Investitionen ihrer Konzerne in Mexiko, waren die reichsten Industrienationen jetzt gezwungen, das bankrotte System des neoliberalen „Musterschülers“ auch noch mit einem Milliardenkredit weiter zu finanzieren, der sowieso niemals zurückgezahlt werden kann. Während sich prominente mexikanische Ökonomen öffentlich fragten, warum Zedillo nicht „die Krise als Chance“ nutzt und statt einer weiteren Auslandsverschuldung von den USA direkte Peso-Stützkäufe nach dem Vorbild des Europäischen Währungssystems erpreßt, hatten die mexikanischen Geheim- Unterhändler längst ihre zentrale Bedingung zur Annahme des Kreditpakets durchgesetzt: die Kontinuität des PRI-Regimes als Garanten wenn schon nicht wirtschaftlicher und finanzieller, dann aber politisch-militärischer Stabilität zu akzeptieren und ihm für die Repression der Dissidenz „freie Hand“ zu lassen.

Genau drei Tage, nachdem die G-7-Staaten in Kanada endgültig diesen Bedingungen anscheinend zugestimmt haben, schlagen militärische und paramilitärische Truppen zeitgleich in Chiapas, in Veracruz und in Mexiko-Stadt los – angeblich, weil sie „zufällig“ Waffenlager entdeckt haben und weil die dabei Festgenommenen, allesamt „EZLN-AnführerInnen“, nicht nur sofort die Identität aller anderen Subcomandantes verraten, sondern gleich auch noch die entsprechenden Fotos und Dokumente beisteuern! Gunther Dietz, Hamburg