■ Hamburger Urteilsbegründung zum „Mythos“ Auschwitz
: Abwege der Hermeneutik

Kürzlich hat das Hamburger Amtsgericht den Betreiber eines rechtsradikalen Info-Telefons vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen. Auf dem Text einer Kassette, die von diesem Telefon abgerufen werden konnte, war im Zusammenhang mit Spielbergs „Schindlers Liste“ vom „Mythos Auschwitz“ die Rede gewesen.

Nach der Urteilsverkündung war der Hamburger Publizist und Jurist Horst Meier in einem bedenkenswerten, in der taz vom 10.2. veröffentlichten Aufsatz der allgemeinen Empörung entgegengetreten. Er rechtfertigte das Urteil, weil der Begriff des „Mythos Auschwitz“ zwei unterschiedliche Lesarten erlaube: Mythos gleich Lüge und Mythos gleich emotionale, der Ratio nicht zugängliche Überhöhung. Letztere unterstelle den Völkermord an den Juden als tatsächlich geschehen, wende sich aber gegen dessen „Mythisierung“. Da der Kassettentext nicht eindeutig der ersten Lesart (Mythos gleich Lüge) zuzuordnen sei, war der Freispruch die einzig mögliche rechtsstaatliche Antwort. Nach der Veröffentlichung der Urteilsgründe wird sich diese Auffassung nicht mehr halten lassen.

Aufgabe des Gerichts wäre es gewesen, den Begriff des „Mythos“ im Licht des Kassettentextes zu interpretieren und zu „verstehen“, ob seine Bedeutung eindeutig ist. Eine hermeneutische Operation, bei der das Gericht es an der notwendigen Sorgfalt hat fehlen lassen. Im Kassettentext ist vom „Juden Spielberg“ die Rede, dessen Filme „grundsätzlich“ einen Oscar erhielten. Weiter heißt es: „Richtet er sich gegen Nazi- Deutschland, kommen weitere hinzu, und hält er den Auschwitz-Mythos am Leben, wird er mit sieben Oscars zum Film des Jahres.“ Hier wird gerade nicht eine „mythologische Überhöhung“ der deutschen Massenmorde an den Juden angeprangert, etwa der Art, daß „die Deutschen“ immerwährend, wegen der Beschaffenheit ihrer Gene oder ihres Nationalcharakters als ein Volk von Tätern anzusehen wären. Vielmehr wird eine Verschwörung suggeriert, kraft derer die Juden dem Rest der Welt eine bestimmte Lesart geschichtlicher Ereignisse aufzwängen.

Um die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Mythos Auschwitz“ bzw. „Mythos Holocaust“ zu erweisen, greift das Gericht auf Texte zurück, in denen von gänzlich anderen Formen der Mythenbildung die Rede ist. Es geht um den Holocaust als „Gründungsmythos“ Israels und um die Probleme, die sich angesichts des „Zerfalls“ dieses Mythos für die kollektive Identität der Israelis ergeben. Es liegt auf der Hand, daß die Autoren der Kassette diese Problematik nicht im Sinn hatten.

Fragwürdig ist auch, daß das Gericht die Aussagen des Angeklagten während des Prozesses ohne hinreichende Prüfung für die Interpretation des Kassettentextes herangezogen hat. Wie in jedem anderen Strafprozeß stand es dem Angeklagten frei, eine Version seiner Motive aufzutischen, die die Strafbarkeit möglichst ausschließt. Eine andere Frage ist allerdings, ob nachträgliche Schutzbehauptungen, wenngleich mit bedauerndem Achselzucken, übernommen werden. Es geht nicht darum, den Amtsrichter Kob, sicher einen honorigen, rechtsstaatlich denkenden Juristen, zu einem neuen Orlet zu stilisieren. Es reicht, wenn das Urteil kassiert wird – aus Rechtsgründen. Christian Semler