Die Bürotisierung Berlins

■ Die städtische Zukunft Berlins wird verbaut / Der Senat setzt auf ein überholtes Großstadt-Bild: die City als Geschäftsstadt mit überwiegender Büronutzung

Es ist wie bei einem Gewitter: Seit dem Sommer vergangenen Jahres tobt in den Medien der „Berliner Architekturstreit“. Die Argumente sind laut und polemisch, bringen aber nur vorübergehend Kühle. Anders gesagt: Spürbare Folgen in der Senatsplanung hat die Debatte nicht hinterlassen. Es geht um Ästhetik, um ein Bild der Stadt, nicht um ihre soziale und politische Zukunft.

Tatsächlich aber stehen in Berlin grundsätzliche stadtpolitische und bauliche Weichenstellungen zur Diskussion. Es ist nicht zu übersehen, daß die seit 1990 an einer eher lethargischen Öffentlichkeit vorbei inszenierte Hauptstadtplanung eine starre, vor allem auf Büros und Dienstleistungen fixierte „Vernutzung“ des städtischen Raums im Berliner Zentrum zur Folge hat. Statt differenzierte Architekturen für alle nur denkbaren Nutzer zu bauen, wird bereits vor Realisierung der meisten Planungen deutlich, daß sie für Umnutzungen, etwa in Wohnraum, Kleingewerbe oder Kultureinrichtungen, für neue Mieter und Stadtbewohner mit anderen Interessen und Bedürfnissen kaum geeignet sind. Einen „hybriden“ Architekturtyp, wie es das Berliner Mietshaus des 19. Jahrhunderts darstellt, in dem durch Wandelbarkeit bis heute fast alles möglich ist, bilden die gleichgeschalteten Bürobauten nicht. Städtische und soziale Zukunft wird verbaut, die Chance für offenes Bauen vertan.

Diese Erkenntnis kann gegenwärtig nicht im Feuilleton, sondern aus den Immobilienseiten der Tageszeitungen gewonnen werden. Überteuerte Grundstücke und hohe Mietkalkulationen waren seit dem Fall der Mauer 1989 die Folge einer illusionären Metropolenerwartung. Wovon das schläfrige Berlin-West geträumt hatte, schien in greifbare Nähe zu rücken: eine Kapitale wie London, Paris oder gar Tokio zu sein.

Der Immobilienmarkt und die Politik haben sich gründlich verkalkuliert. Einer sinkenden Nachfrage steht ein immer größer werdendes Angebot an Büroflächen gegenüber. Die gegenwärtige Leerstandsrate von 2,3 Prozent wird sich angesichts von 1,6 Millionen Quadratmeter Bürofläche, die jetzt in den beiden Citybereichen Ost- und Westberlins im Bau sind, erhöhen. Für viele dieser Projekte gilt, daß sie eher „mit Blick auf die Steuererklärung als auf wirtschaftliche Überlegungen geplant“ wurden, so die Einschätzung des Bonner Wirtschafsexperten Ulrich Pfeiffer. Ein Gutteil der ursprünglichen Spekulationswelle war von der Politik noch durch Abschreibungsmodelle forciert worden.

Zwar ist der rapide Preisverfall der Büromieten seit 1993 auch rezessionsbedingt. Entscheidender aber ist die geringe Neigung von Unternehmen und Verbänden, den Standort Berlin anzunehmen. Die vornehme Zurückhaltung der Wirtschaft hat unlängst das Immobilienunternehmen Herring Baker Harris in einer Umfrage ermittelt. Allenfalls Außenstellen sind geplant, „Headquarters“ sind kaum zu erwarten. Selbst am Prestigestandort Potsdamer Platz ist einzig der Daimler-Benz-Ableger debis im Bau. Sony und ABB lassen sich Zeit, und Hertie hat noch nicht einmal mit der Planung begonnen.

Seit längerer Zeit schraubt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung deshalb ihre Metropolenprognosen herunter. Nicht mehr London und Paris, sondern Lissabon, Lille, Barcelona, Prag und Budapest konkurrieren danach mit Berlin im mittleren „Metropolenfeld“. Der dadurch verursachte Nachfrageeinbruch auf dem Berliner Büromarkt hat zunächst die Bürokomplexe in verkehrsungünstigen Randlagen getroffen. Doch zunehmend erwischt es auch die Berliner Mitte und den Kurfürstendamm. Einige dieser Projekte werden nun für gemischte Nutzungen – teuer – umgebaut. Die Umnutzungen orientieren sich an einer stärkeren Ausweitung der Handelsflächen und einem größeren Anteil von Wohnungen. Die Mischung und Veränderung wäre aber sinnvoller zu erreichen, würden Neubauten bereits als variable Bauten geplant, die unterschiedliche Wohn- oder Bürogrundrisse zulassen. Genau dies ist bei der vom Senat favorisierten Entwurfshaltung bisher unterblieben, ja noch nicht einmal experimentell untersucht worden.

Hier wird eine Schwachstelle der Berliner Planungen deutlich, die nicht nur Renditeerwartungen von Investoren und Maklern betrifft. Die herbeigeredete „berlinische“ Architekturtypologie aus Großblock mit regulierter Traufkante und Turm, die als Gemeinwohlkorsett den Investoren vom Senat verordnet wurde, verweist auf ein überholtes Bild von Großstadt und Urbanität: die City als Geschäftsstadt mit überwiegender Büronutzung. Dieses offizielle Leitbild ist für die mangelnde Flexibilität und Nutzungsvielfalt der Innenstadtprojekte mitverantwortlich. Sowohl die Hymne des Stadtentwicklungssenators Hassemer auf die Städte der Zwanziger Jahre, die der Retorte von Babelsberg und Hollywood entstammt, als auch die Beschwörung einer im Kaiserreich wurzelnden Tradition des berlinischen Geschäftshauses durch den Senatsbaudirektor Hans Stimmann („Ich will die konservative Stadt“) haben die soziale Monokultur einer reinen Geschäftsstadt zur Grundlage. Das Leitbild der zehner bis dreißiger Jahre, für das in Deutschland der Begriff „City“ bis heute folgenreich geprägt worden war, wurde auf dem Höhepunkt eines kommerziellen und staatlichen Bürokratismus formuliert. Hassemers „dynamisches“ Metropolenbild und Stimmanns „statisches“ Bild von Reichshauptstadt sind zwei ästhetische Seiten ein und derselben Medaille.

Heute befinden wir uns hingegen im Übergang zu einer zusehends deregulierten Gesellschaft, in der bei veränderter technologischer und sozialer Organisation die ältere Idee der „europäischen Stadt“ mit der Mischung von Funktionen und vielfältigen Lebensformen wieder formuliert werden könnte. Seit der Jahrhundertwende wurde diese Idee – und Praxis – den bürokratischen Großorganisationen geopfert. Paradoxerweise war es gerade das Bild der „europäischen Stadt“, die die Berliner Hauptstadtplanung offiziell legitimierte.

Der Widerspruch zwischen dieser sozialen Vision und der Architekturvision des „preußischen“ und „steinernen“ Berlin wurde jedoch in seinen Auswirkungen unterschätzt und das Leitbild der sozial und kulturell gemischten Stadt, der Öffentlichkeit, der „res publica“ aktiver Stadtbürger, in seiner baulichen Gestalt aufgegeben. Die „City“ der Angestelltenkultur hat in der Berliner Mitte über die „Europäische Stadt“ einer politischen Kultur der Stadtbürger gesiegt. So ist denn die einzige elastische, anpassungsfähige und variable Gebäudetypologie in Berlin nach wie vor in der gründerzeitlichen Mietskasernenstadt zu finden.

Das Ergebnis der großen Bauwettbewerbe seit vier Jahren ist dagegen eindeutig: hochverdichtete Baublöcke von 22 bis 30 Meter Höhe, enge Höfe, eine große Gebäudetiefe und eine mindestens viergeschossige Ausnutzung der Kellerbereiche schließen in der Friedrichstadt eine Umnutzung dieser Büro- und Konsumpakete in offene Wohn- und Gewerbemischungen aus. Auch der Wohnungsanteil von zwanzig Prozent erfüllt nur eine Alibifunktion: es handelt sich um reduzierte Dachgeschoßwohnungen, die eher als Dienst- und Zweitwohnungen für Führungskräfte zu gebrauchen sind. Familien oder Wohngemeinschaften sind hier unvorstellbar. Auch das Fehlen von Folgeeinrichtungen steht einer städtischen Mischung entgegen.

Noch offenkundiger wird die Fixierung auf den engen Horizont der Bürokultur bei den Hochhausprojekten am Alexanderplatz und den Privatcities von debis, ABB und Sony am Potsdamer Platz: die vielbeschworene Urbanität erschöpft sich in der Stapelung von Sekretärinnen und Abteilungsleitern, einzig die Chefetage fehlt, da sie in Frankfurt oder sonstwo steht. Hier soll immerhin ein nachträglich durchgesetzter Wohnungsanteil von dreißig Prozent einen Ausgleich schaffen. Tatsächlich ist diese hilflose Durchsetzung eines minimalen Wohnungsanteils das einzige Instrument des Bausenats gegen die Bürotisierung der Berliner Mitte. Ohne eine qualitative soziale, ästhetische, räumliche, infrastrukturelle und ökologische Bestimmung von urbanem Wohnen ist eine solche rein quantitative Vorgehensweise indes unsinnig.

Gegenüber den jetzt schon im Bau befindlichen Geschäfts- und Bürohäusern haben die Kritiker zu Recht darauf hingewiesen, daß diese, vielleicht mit Ausnahme von Sony und der debis-Planung am Potsdamer Platz, dem internationalen Standard moderner Büroarbeitsplätze nicht genügen. Aber auch das intelligentere Büro wäre keine Antwort auf das Problem von Monostruktur mit Leerstand, die verödete Innenstadt. Der kostspielige Berliner Architekturzirkus Hassemers und Stimmanns hat es versäumt, einen neuen Bautypus in einer zukunftsoffenen städtebaulichen Ordnung zu entwickeln. Bezeichnenderweise stammt der erste Entwurf in dieser Richtung einer flexiblen, umnutzbaren Bautypologie von Berliner Architekten: Tim Heide und Verena von Beckerath – allerdings nicht für Berlin, sondern zum „Wettbewerb Elbberg-Projekt“ (1994) in Hamburg. Hier war die Umnutzung als Thema explizit gestellt worden. Warum ist in Berlin niemand auf eine solche Aufgabenstellung gekommen?

Der akute Umnutzungsdruck wird auch dann nicht von der Tagesordnung verschwinden, wenn mittelfristig eine Stabilisierung des Büromarkts eintritt. Im Gegenteil: Unabhängig von sozial oder politisch wohlbegründeten Vorstellungen von Urbanität dürfte sich der Rationalisierungsdruck, der bereits jetzt die Produktion radikal verändert, auch im Dienstleistungsbereich verstärken. Das Büro ist eine der vorerst letzten Rationalisierungsressourcen, die angesichts der Potentiale der Bildschirmarbeit zur Dezentralisierung und Minimierung von Funktionen erschlossen wird. Zwar sind die Visionen von einer neuen Ära der Heimarbeit und völliger Dezentralisierung illusorisch – und wohl auch nicht wünschbar. Die Tendenz zu kleineren Einheiten und der relative Bedeutungsverlust von Zentralität, vielleicht abgesehen von den Finanzzentren der Welt, New York, Tokio und London, den einzigen wirklichen Metropolen, wird sich aber beschleunigen und den rationalen Blick auf das Büro als Immobilie und als Betriebskostenfaktor schärfen. Bei 220 Arbeitstagen im Jahr mit acht Stunden Arbeitszeit, so haben Berechnungen des neuen Dienstleistungszweiges „Facility Management“ ergeben, steht ein Bürogebäude von jährlich 8.760 Stunden 7.000 Stunden leer. Die „Nutzungsintensität“ liegt bei rund 20 Prozent.

Unternehmen werden in nicht allzuferner Zukunft hierauf reagieren. Eine ihrem Gemeinwesen verpflichtete Stadtplanung sollte diese Szenarien bereits heute als Chance begreifen, räumliche Bedingungen einer „neuen Urbanität“ schaffen zu können – jenseits der Fassaden des Steinernen Berlin. Werner Sewing

Der Autor lehrt Stadt- und Architektursoziologie an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar