„Kummer macht schlank“

Über zehn Prozent der Berliner sind zu dick / Obwohl Übergewicht bei Kindern ein Dauerproblem ist, gibt es keine konkrete Prävention  ■ Von Barbara Bollwahn

„Da trat als Traumbild jene, die so oft ich unter Tränen herbeigewünscht, zu mir heran und stillte so mein Sehnen. Wie schön die Vielgeliebte war mit ihren vollen Hüften, wie schwankte hin und hergewiegt ihr die Gestalt in Lüften.“

Was die Hormonkurve des andalusischen Dichters Ibn Scharaf im 11. Jahrhundert nach oben trieb, läßt im Claudia-Schiffer-Zeitalter viele europäische Männer kalt. Ob Fettsteiß oder Bierbauch, ob schön oder nicht: Über zehn Prozent aller Berliner sind übergewichtig. Das heißt, ihr Gewicht liegt zwanzig Prozent über dem Normalgewicht.

Die Ursachen sieht Sabine Koch-Gensecke von der Senatsverwaltung für Gesundheit hauptsächlich darin, daß mit der zunehmenden Industrialisierung körperliche Arbeit und frisches Essen durch Computer und Fastfood ersetzt wurden. Bluthochdruck, gestiegener Cholesterinspiegel, Gelenk- und chronische Rückenschmerzen, Stoffwechselerkrankungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden oder psychische Probleme können die Folge sein.

Viele Versicherungen richten sich mit entsprechenden Beratungen an Übergewichtige. So führt die AOK beispielsweise pro Quartal etwa 200 Einzelberatungen zum Thema Ernährung durch, an denen vorwiegend Frauen teilnehmen. Die hätten mit einem Schönheitsideal zu kämpfen, das „nicht sehr frauenfreundlich“ ist, so die Ernährungsberaterin Semra Köksal. Während Frauen sich und den Männern gefallen wollen, kommen viele Männer wegen Gesundheitsproblemen und oft erst dann, wenn es schon zu spät ist.

Die Rückfallquote ist, wie auch bei den Weight Watchers, hoch. „Am Anfang kamen die Leute mit Bussen und der Bahn angefahren“, erinnert sich der PR-Chef der Weight Watchers, Heiko Hegner, an das erste Jahr nach dem Mauerfall, als in Köpenick die erste Gruppe gegen ihre Pfunde ankämpfte. Doch die „Goldgräberzeit“ im Osten ist vorbei. Dort, wo nach Meinung von Hegner die Fingerringe der Frauen einen halben Zentimeter und die Konfektionsgrößen um ein bis zwei Nummern größer seien als im Westen.

Mittlerweile habe sich der „Riesennachholbedarf“ auf ein „normales Maß zusammengeschrumpft“. Derzeit wird in 12 Ostberliner und 29 Westberliner Gruppen mit je 30 Teilnehmern abgespeckt. Während jeder Berliner im Schnitt etwa zwanzig Kilogramm Süßigkeiten pro Jahr in sich rein stopft, nehmen die Weight Watchers durchschnittlich ein Pfund pro Woche ab.

Für Dieter Johnsen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam, sind die Weight Watchers „keine schlechte Geschichte“. Die kommerzielle Seite jedoch geht ihm zuweit. Das Beratungsunternehmen böte Produkte und Bücher an, die man gezwungen sei zu kaufen. Auch das von den Gruppenleitern vermittelte Einheitswissen stört ihn. „Wenn ich Gruppenleiter wäre, müßte ich Hut und Gehirn an der Garderobe lassen“, sagt Johnsen. Er wendet sich auch gegen den sogenannten Kummerspeck: „Wer Sorgen hat, hat keinen Appetit“, ist er überzeugt. „Kummer macht schlank.“

Auch bei Schülern wird behandlungsbedürftiges Übergewicht immer häufiger diagnostiziert. Waren 1990 nur knapp vier Prozent der eingeschulten Kinder übergewichtig, so eine Untersuchung der Senatsverwaltung für Gesundheit, ergaben die Ergebnisse der Schulentlassungsuntersuchungen von 1992 eine erhebliche Zunahme. Besonders betroffen sind Mädchen. Auch zwischen den Ost- und Westberliner Bezirken gibt es erhebliche Unterschiede: 1992 waren knapp 30 Prozent der Westberliner Schülerinnen zu dick, in Ostberlin waren es 18 Prozent. Bei den ausländischen Schülerinnen in den Westbezirken waren es sogar 40 Prozent. „Die Kids bewegen sich zuwenig und knallen sich zig Kilokalorien mit Coca-Cola und Pamps rein“, so Sabine Koch-Gensecke. Übergewicht bei Kindern sei kein akutes Problem, so ihre Kollegin Barbara Buck-Malchus, sondern ein Dauerproblem. Trotz der Überzeugung, daß Kinder und Jugendliche bei der Gesundheitsförderung die Hauptzielgruppe sein müßten, gibt es seitens der Gesundheitsverwaltung keine konkreten Präventivmaßnahmen gegen Übergewicht. Da sind die bezirklichen Gesundheitsämter weitestgehend auf sich allein gestellt.