Vom Sightseeing mit Sichtblenden

Der Atitlán-See in Guatemala ist eine Kultstätte der umherirrenden Rucksacktouristen  ■ Von Karl Schaaf

Lärm und Getöse. Einheimische packen ihre Lasten auf einen Kutter: Früchte und Gemüse, das sie auf dem Markt nicht loswerden konnten, oder auch Garn, aus dem sie bunte Kleider weben. Touristen stehen schwatzend im Weg, warten auf eine Fähre. Diese kleine Szenerie scheint dem Ort seine Ruhe nicht nehmen zu können. Der Lago, wie der See hier meistens nur genannt wird, ist blau, kalt und tief.

Die Maya-Indianerin Lucia Quila weiß, wie beliebt ihr Land bei ausländischen Touristen ist. Wie viele andere hat sie im nun schon 30 Jahre dauernden Bürgerkrieg ihre Angehörigen verloren. Deshalb ist Lucia mit anderen Frauen in der Witwenorganisation CONAVIGUA aktiv: Sie wollen den Krieg bekämpfen und setzen sich für soziale Gerechtigkeit ein.

Die Lage des Atitlán-Sees könnte malerischer nicht sein. Umgeben von drei Vulkanen liegt das Binnengewässer 1.560 m über dem Meeresspiegel im nordwestlichen Bergland Guatemalas. Verzaubert scheint der Blick an diesem sonnendurchfluteten Tag. Einer Märchenlandschaft gleich, erheben sich die Vulkane Tolimán, Atitlán und San Pedro gegen den wolkenlosen Himmel – wie gemalt wirken die weißen Indigena-Dörfer auf den Hügeln am See. An diesem schönsten See der Welt, wie der weitgereiste Alexander von Humboldt anmerkte, läßt sich leicht vergessen, was rundherum vorgeht.

Das Land ist durch den jahrzehntelangen Krieg ausgebrannt. Wesentliche Ursache für den immer wieder aufflammenden bewaffneten Konflikt ist die ungerechte Aufteilung der Agrarflächen, in denen sich die koloniale Unterjochung der indianischen Bevölkerung widerspiegelt: 2 Prozent der Landesbewohner, Nachfahren der spanischen Eroberer, besitzen 65 Prozent des fruchtbaren Bodens. Demgegenüber steht die große Mehrheit der Indios, die als Tagelöhner oder Kleinstbauern ihr Dasein fristen. Obwohl das Land seit 1986 formaldemokratische Spielregeln kennt, herrschen im Hintergrund immer noch die Militärs. Seit die Oligarchie sich zu der Erkenntnis durchrang, daß die aus verschiedenen Guerilla-Gruppen fusionierte Dachorganisation UNRG militärisch nicht zu besiegen ist, kam es zu Verhandlungen mit den Rebellen. Nach einem sich über nahezu zehn Jahre hinziehenden Verhandlungsmarathon wurden am 17. Juni 1994 in Oslo unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen verschiedene Friedensvereinbarungen getroffen. Darunter ein Abkommen zur Einhaltung der Menschenrechte. Die Vereinbarung war ihr Papier nicht wert. Seit November wird nun wieder um einen Frieden verhandelt. Im Januar nahmen die Menschenrechtsverletzungen in einem Maße zu, wie man es schon lange nicht mehr erlebt hatte. An einem Wochenende gab es in der Hauptstadt 56 Morde: Guatemala – ein Reiseland im Ausnahmezustand.

In Panajachel, dem Hauptort am See, trifft sich die Traveller-, und Aussteigerszene aus allen Ecken der Welt. Von dem ehemaligen Indianerdorf ist nicht mehr viel übrig. Das Leben der modernen Konquistadoren in Gringotenango, wie Panajachel aufgrund der vielen nordamerikanischen Aussteiger, die man hier trifft, genannt wird, ist häufig von den Gesetzen der Trägheit bestimmt. Die Welt der hier ursprünglich lebenden Indianer ist den meisten Touristen wie durch Sichtblenden verbaut. Der Blickwinkel des angenehmen Lebens focussiert sich auf das Bequeme und Ästhetische, wie hinter einer unsichtbaren Mauer verborgen spielt direkt daneben das mühsame Leben der Indigenas. Sich mit den Indios zu beschäftigen, in deren Lebenswelt einzudringen, könnte möglicherweise gar nicht gewollt sein, sagen viele, die man hier trifft. Für Hans Kreutzer „ist Guatemala in erster Linie ein Urlaubsland, und ich will dieses Land kennenlernen und mich auch ein bißchen mit Kultur und Geschichte auseinandersetzen, soweit dies irgendwie geht.“ Viel geht in den paar Wochen nicht. Gern bleibt man unter sich, der Kontakt zu den Einheimischen beschränkt sich in aller Regel auf die Inanspruchnahme der Dienstleistungen, und diese sind mit westlicher Valuta in der Tasche billig.

Im November letzten Jahres nahm die Mission der Vereinten Nationen für Guatemala – kurz „Minugua“ genannt – in der Hauptstadt ihre Arbeit auf. Insgesamt sind 220 internationale BeobachterInnen, 60 zivile Polizisten und 10 militärische Verbindungsoffiziere für die UNO-Mission tätig. Die Hauptaufgabe von Minugua besteht in der Aufnahme von Menschenrechtsverletzungen und der Unterstützung von nationalen und lokalen Menschenrechtsorganisationen in ihrer Arbeit.

Die Fähre hat inzwischen, mit kleinen Zwischenstopps, das gegenüberliegende Seeufer erreicht, schiebt sich mit gedrosselter Maschine an einen grobbehauenen Holzsteg heran – der Anleger des Dorfes San Pedro La Laguna. Die Ankunft eines Schiffes setzt in dem sonst etwas verschlafen wirkenden Dorf einiges in Bewegung. Mehrmals täglich wiederholt sich das Ritual: Kinder und Jugendliche stürzen sich auf ankommende Touristen. Kleine Mädchen bieten in großen Obstkörben exotische Früchte an. „Komm mit, Hombre, ich zeige dir die billigste und beste Unterkunft im Dorf. Nur zehn Quetzales die Nacht. So billig, Hombre, bekommst du es sonst nirgends“, ruft ein kleiner Junge und greift nach meiner Hand. Die jugendlichen Dorfbewohner arbeiten als Schlepper. Sie müssen die ankommenden Touristen davon überzeugen, daß ihre Hospedaje die allergrößten Vorteile bietet. Sie erhalten einen Quetzal, wenn sie einen Touristen abliefern.

San Pedro La Laguna liegt direkt am Fuße des gleichnamigen Vulkans. Dieses dichtbesiedelte Tzutuhildorf mit seinen verwinkelten Straßen entwickelte sich in den letzten Jahren neben Panajachel zu einem zweiten Travellertreff. Der Junge führt uns durch eine Kaffeeplantage. Ein süßlich modernder Geruch zieht durch die Luft. Einen Moment lang werde ich mißtrauisch. Sollte dieser Weg möglicherweise an einem Gebüsch enden, hinter dem schon die Räuber warten? Die ständig schlechter werdende wirtschaftliche Lage und die fehlenden Arbeitsplätze treibt vor allem viele Jugendliche in die Kriminalität. Das Land bewegt sich in einer permanenten Krise. Die Entwicklung des industriellen Sektors wird durch den schwachen heimischen Markt gebremst. Niedrige Löhne, Inflation und steigende Lebenshaltungskosten hemmen die Kaufkraft der Guatemalteken. Trotz eines Wirtschaftswachstums von durchschnittlich 2,5 Prozent jährlich ist das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Mit dem Bevölkerungswachstum von 2,5 bis 3 Prozent steigt auch die Zahl der Erwerbslosen und Unterbeschäftigten. Armut und Elend nehmen zu. Und die Regierung weigert sich bisher, dringend notwendige sozialpolitische Investitionen zu tätigen. Riesige Summen verschlingt dagegen ein aufgeblasener und träger bürokratischer Apparat. Er bremst den Fortschritt ungemein.

Plötzlich taucht das Ende der Plantage auf. Wir sind im Westteil dieser scheinbar völlig willkürlich gewachsenen Urbanität angekommen. Gleich um die Ecke findet sich die Hospedaje Ti-Kaaj.

„Hier ist es wirklich billig.“ Wolfgang und Thomas, zwei Mittelfranken, die wir im Ti-Kaaj treffen, sind von den Preisen angetan. Nicht zuletzt hat sie das Wissen um die hohe Kaufkraft der D-Mark hierhergebracht, denn „man muß schon schauen, was man für sein Geld bekommt“. Für die beiden Facharbeiter aus der Nähe von Nürnberg ist es bei Fernreisen einfach wichtig, billig leben zu können. Sonst rentiert sich der Flug ja nicht, meint Thomas. Die beiden Franken drücken die Minimalforderungen der heutigen Individualtouristen in Guatemala aus. Sie gelten für ganz Lateinamerika. Es muß schön und billig sein.

Seit Januar wird nun wieder unter der Regie der UNO um einen Frieden gerungen. Mit immensem Druck, denn Butros Ghali will das Thema Guatemala so schnell wie möglich vom Tisch haben. Ebenso drängt die Regierung Ramiro de León Carpio auf eine schnelle Verhandlungslösung. Für sie beginnt im März bereits der Wahlkampf, bei den im Oktober geplanten Präsidentschaftswahlen soll sich erstmals auch die Befreiungsbewegung URNG als Partei beteiligen. Außerdem tagt im selben Monat die UNO-Menschenrechtskonferenz in Genf, wo es wieder einmal darum gehen wird, ob Guatemala als menschenrechtsverletzender Staat international verurteilt wird. Guatemalas Regierung fürchtet solche Anlässe und würde sich dort sehr gerne als weißgefiederte Friedenstaube präsentieren.

Die ebenfalls durch die UNO stark unter Druck gesetzte Guerillaorganisation URNG hat nun eine Vertragsvorlage ins Spiel gebracht, die von Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und den Kirchen erarbeitet wurde. Die Dokumente beinhalten differenzierte Lösungsansätze für die grundlegenden Probleme der guatemaltekischen Gesellschaft. Jedoch weigert sich die Regierung, diese Vorschläge zu diskutieren. Verteidigungsminister Mario Enrigúz opponierte, in dem Gremium der Volksorganisationen seien weder Armee und Regierung noch Unternehmerverbände vertreten.

Für die Organisationen der Indianer ist diese Position der Regierung typisch: Sie blockiert jede konstruktive Initiative. 500 Jahre hätten sie auf einen Frieden gewartet, nun wollen sie endlich ihre Grundrechte als Menschen haben, entrüstet sich Lucia Quila vom Witwenkomitee: „Für uns Maya- Völker geht es darum, daß wir endlich unsere Rechte erhalten, und das ist also wirklich keine Sache, die so oft diskutiert werden müßte. So grundlegende Rechte wie der Zugang zu Land und das Recht auf politische Mitsprache.“

Währenddessen spitzt sich die Menschenrechtssituation im Land wieder zu: Der guatemaltekische Menschenrechtsbeauftragte Jorge Garcia Laguardia spricht von der Gefahr, der Terror, der vor einem Jahrzehnt unter den Militärregierungen herrschte, könne zurückkehren. Garcia forderte die Regierung und die Sicherheitskräfte auf, ein Blutbad im Land zu vermeiden. Die Ermordeten seien Menschen, deren einziger Fehler es war, in irgendeiner Form zur Stärkung des demokratischen Lebens im Land beigetragen zu haben.

Wolfgang und Thomas haben davon nichts mitbekommen. Sie sind schon lange nach Kolumbien weitergeflogen.