Das Grundrecht des Schwiegersohnes

■ Zum fünften Jahrestag der sandinistischen Wahlniederlage steckt Nicaragua mitten in einer schweren Verfassungskrise

Managua (taz) – Seit gestern sind in Nicaragua zwei Verfassungen in Kraft – oder gar keine, je nach politischer Position des Betrachters. Drei der vier Tageszeitungen publizierten ein Paket von 66 Verfassungsreformen, das monatelang Gegenstand eines Tauziehens zwischen Regierung und Parlament sowie zwischen den beiden Tendenzen der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) waren. Parlamentspräsident Luis Humberto Guzmán entschloß sich, die Reformen zu veröffentlichen, nachdem Staatspräsidentin Violeta Chamorro ihrer verfassungsmäßigen Pflicht zur Bekanntmachung der Reformen nicht nachkommen wollte.

Die Änderungen der 1987 verabschiedeten Verfassung, die seit Mitte letzten Jahres in der Nationalversammlung debattiert wurden, sollen vor allem die Legislative gegenüber der Regierung stärken. Weitere Reformen: der Wahlmodus für Präsidenten und Bürgermeister und das Verbot für Angehörige des Staatsoberhauptes, zum höchsten Amt zu kandidieren.

Ihre Weigerung, die Reformen durch Veröffentlichung rechtskräftig werden zu lassen, begründete Chamorro mit einer Entscheidung des Berufungsgerichtes in Masaya, das angeordnet hatte, die Reformen zu suspendieren. Verdächtig ist, daß der Richter, ein Intimfreund von Chamorros Schwiegersohn und Präsidialamtsminister Antonio Lacayo, sich von Amts wegen der Sache angenommen hatte. Lacayo, der bislang standhaft behauptet hatte, seine Einwände gegen das Reformpaket hätten nichts mit seinen persönlichen Ambitionen auf die Präsidentschaft zu tun, beantragte außerdem am Mittwoch eine einstweilige Verfügung gegen die Verfassungsreformen. Begründung: Die Ausschließungsgründe verletzten sein Grundrecht auf Gleichbehandlung.

Noch vor wenigen Tagen hatte sich ein Kompromiß abgezeichnet. Nachdem Spaniens Premier Felipe González, auf Blitzbesuch in Zentralamerika, der Präsidentin zum Nachgeben geraten hatte, erklärte sich Doña Violeta schließlich bereit, die Reformen zu unterzeichnen, wenn das Parlament über die Termine für das Inkrafttreten und die Durchführungsgesetze mit sich reden lasse.

Als es am Donnerstag jedoch ans Verhandeln ging, standen plötzlich doch wieder die Reformen an sich zur Debatte: Eine „Parlamentsdiktatur“ werde damit errichtet, schimpften die Präsidentin und ihre engsten Berater. Denn die Nationalversammlung beansprucht für sich das Recht, am Budget Änderungen vornehmen zu können und nimmt der Regierung die Vollmacht, per Dekret neue Steuern zu schaffen.

Nach dem Spruch von Masaya will Chamorro jetzt eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes abwarten, bevor sie die Reformen offiziell absegnet. Parlamentspräsident Guzmán seinerseits machte von einem Verfassungsartikel Gebrauch, der es ihm gestattet, ein Gesetz in Kraft zu setzen, wenn das Staatsoberhaupt zwei Wochen nach dessen Vorlage darauf nicht reagiert.

So dümpelt die Krise vor sich hin, die 30 politischen Parteien zeigen sich zur Konsensfindung offenbar unfähig, und jeder in Nicaragua erklärt genau das, was man von ihm erwartet: Der erst am Dienstag vereidigte neue Armeechef General Joaquín Cuadra versichert, die Streitkräfte würden auch in einer Verfassungskrise auf keinen Fall putschen; der von der Macht ausgeschlossene Vizepräsident Virgilio Godoy bekundet, er sei im Falle eines Machtvakuums bereit, die Zügel in die Hand zu nehmen, und Sandinisten-Chef Daniel Ortega, nach einer mehrmonatigen Herzbehandlung in Kuba wieder in der Politik, rief am Wochenende vor tausenden Anhängern das Volk auf, die Macht zu übernehmen.

Jede gefährliche Zuspitzung wird jedoch aufgeschoben werden müssen. Heute wird erst einmal der fünfte Jahrestag des Wahlsieges von Chamorro über die sandinistische Regierung gefeiert, und dazu wird der ehemalige US-Präsident George Bush in Managua erwartet. Ein Gast, vor dem sich weder Regierung noch Opposition blamieren wollen. Ralf Leonhard