Der Tschetschenien-Krieg hat die russischen Medien in ihrem Selbstbewußtsein bestärkt. Die Armee und das Innenministerium antworten auf die kritischen Berichte mit Propagandamärchen und Einschüchterungsversuchen. Aus Moskau Ulrich Heyden

Raketen auf die freie Presse

Das Datum für den russischen Einmarsch nach Tschetschenien war wohl kalkuliert: Er begann an einem Feiertag, dem Jahrestag der neuen russischen Verfassung. Erst drei Tage danach konnte die russische Tagespresse wieder erscheinen. Über den Einmarsch in Tschetschenien und die ersten Proteste auf den Moskauer Straßen informierte also zunächst nur das Fernsehen. Die Führer der demokratischen Organisationen und Parteien hatten keine Möglichkeit, sich unmittelbar zu Kriegsbeginn in den Moskauer Blättern zu äußern. Die Armeeführung wußte, daß auch die Moskauer Presse den Krieg ablehnen würde.

Heute reicht das Spektrum der Kriegsgegner von der ehemals regierungsnahen Iswestija bis hin zu der national-kommunistischen Sawtra. Nur die offizielle Regierungszeitung Rossiskaja Gaseta und die Armeezeitung Roter Stern unterstützen den Krieg. Auch auf den verschiedenen Fernsehkanälen überwiegt die Kritik am Feldzug im Kaukasus.

Am deutlichsten ist diese Haltung beim privaten Fernsehsender NTW. Dort arbeitet die Nachrichtensprecherin Tatjana Mitkowa. Im Jahre 1991, als russische Truppen in Vilnius gegen die litauische Unabhängigkeitsbewegung vorgingen, weigerte sie sich bei ihrem damaligen Arbeitgeber, dem staatlichen Fernsehen, die Nachrichten zu verlesen. Zur Tschetschenien- Berichterstattung von NTW meint sie heute: „90 Prozent der Informationen kommen aus russischen Quellen.“ Am Anfang des Krieges sei es umgekehrt gewesen. Da kam der Großteil der Informationen von tschetschenischer Seite. „Das liegt an der Informationsbetreuung bei der Tschetschenien-Operation.“

Die Verantwortlichen in der russischen Regierung gaben sich keine große Mühe, die gegen den Krieg eingestellte Presse auf ihre Seite zu ziehen. Lieber setzte man auf primitive Instinkte. Präsident Jelzin erklärte Ende Dezember in seiner Rede an das Volk: „Tschetschenisches Geld wirkt in den russischen Massenmedien.“

Diese Verleumdungen haben sich seitdem noch verstärkt. Je erfolgloser die russischen Militärs den Krieg gegen das kleine Volk im Kaukasus führten, desto aggressiver äußerten sich die Kriegstreiber. Ende Januar veröffentlichte die Regierungszeitung Rossiskaja Gaseta eine anonyme Erklärung von Militärs der Vereinigten russischen Streitkräfte in Tschetschenien. Die Erklärung richtet sich an den Präsidenten und die führenden Institutionen des Staates. Die Autoren schreiben: „Es ist unschwer zu erkennen, daß die ständigen Angriffe auf das Verteidigungsministerium und das leitende Kommando der bewaffneten Kräfte Teil eines gutgeplanten und organisierten informationspsychologischen Krieges gegen Rußland sind.“

Den harten Kurs gegen die Medien bekommen vor allem die Journalisten zu spüren, die vor Ort in Tschetschenien vom Krieg berichten.

Dort sind in zwei Kriegsmonaten doppelt so viele Journalisten umgekommen wie im nun schon mehrere Jahre dauernden Bürgerkrieg in Tadschikistan. Journalisten werden verprügelt, ihnen wird die Ausrüstung abgenommen, sie werden gezielt beschossen. Die Korrespondentin von Radio Rußland, Nadjeschda Taschikowa, wurde in ihrem Auto beschossen. Als sie mit ihren Mitfahrern aus dem Wagen flüchtete, feuerte ein Hubschrauber zwei Raketen auf sie ab. Von der Rückgabe beschlagnahmten Materials oder Entschuldigungen von seiten des Verteidigungsministeriums hat man bisher nichts gehört.

Oftmals sind für Informationen von russischer Seite hohe „Honorare“ zu zahlen. Als die MDR- Korrespondentin Elke Windisch im Verteidigungsministerium über Eltern recherchierte, die nach ihren Söhnen suchten, verlangte man für Auskünfte 400 Dollar.

Nach Angaben des Moskauer „Glasnost-Fonds“ waren seit Kriegsbeginn 115 Journalisten in Tschetschenien im Einsatz. 15 wurden verletzt, fünf kamen um, darunter die Time-Fotoreporterin Sinti Elbaum und der Stern-Reporter Jochen Pist. Außerdem veröffentlichte die tschetschenische Nachrichtenagentur nach Angaben des „Glasnost-Fonds“ noch eine Liste mit weiteren elf getöteten tschetschenischen Journalisten.

Trotz Verleumdungskampagnen und Einschüchterungsversuchen weiß die russische Führung um Jelzin, daß sie die Presse nicht mehr zum Schweigen bringen kann. Oleg Panfilow vom „Glasnost-Fonds“ meint: „Die Regierung rührt die Presse nicht an, weil sie das Aushängeschild ist. So kann man im Westen sagen: Ja, dort gibt es Freiheit. Jelzin kann die Presse nicht mundtot machen. Wenn es sie nicht mehr gibt – das weiß er ganz genau –, dann kommen aus dem Westen keine Kredite mehr.“

Hat die russische Pressefreiheit also nur eine Alibifunktion? Immerhin haben die Zeitungen dazu beigetragen, daß sich die Menschen nicht an den Krieg gewöhnen. Moskowskij Nowosti veröffentlichte in dieser Woche die Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts. Danach hat sich die ablehnende Haltung der Russen im Verlauf des Krieges verstärkt. 71 Prozent der Befragten hatten eine negative Meinung zum Einmarsch der russischen Truppen. Anfang Dezember waren es noch 65 Prozent. Der Erfolg der russischen Presse läßt sich beziffern.