Wie eine Flut in der Nacht

Aids greift von Thailand aus auf Vietnam über und breitet sich rasant aus / Prostituierte verschwinden in „Umerziehungslagern“  ■ Aus Ho-Chi-Minh-Stadt Anja Nitzsche

Plötzlich ist es still. Ein Satz von Hung genügt, und das fröhliche Stimmengewirr verstummt. Nur noch das Brummen des Ventilators an der Decke ist zu hören, der die heiße, feuchte Luft im Raum in Bewegung hält. „Wir verabschieden zwei Freunde, die von uns gegangen sind“, hatte der 24jährige Student mit leichtem Zittern in der Stimme gesagt. Schweigen, drei Minuten lang.

Zwei Freunde, damit sind zwei Drogensüchtige gemeint. Als Todesursache haben die Ärzte Tuberkulose festgestellt. Doch jeder in der Runde weiß, was das eigentlich heißt. „Aids“, murmelt Hoa, eine kleine, ausgemergelte Frau, die seit knapp zwei Jahren die Gruppe der „Schwestern“ leitet, wie sich die Prostituierten bezeichnen. Langsam löst sich die Verkrampfung, leises Murmeln kommt auf, als Van, der Leiter des outreach teams zur Tagesordnung übergeht. Von jedem der zwanzig Streetworker möchte er hören, was er in der vergangenen Woche geleistet hat, wie viele neue „Kontakte“ zustande kamen, wo die Probleme in der Szene liegen.

Das kleine zweistöckige Haus im Zentrum von Ho-Chi-Minh- Stadt beherbergt ein für Vietnam einzigartiges Projekt. Von der privaten britischen Organisation „Save the Children Fund“ (SCF) vor zwei Jahren gegründet und bis heute finanziell unterstützt, finden sich hier Drogenabhängige, Prostituierte und Schwule zusammen, um gemeinsam Wege für eine wirkungsvolle Aufklärungskampagne über die Immunschwächekrankheit Aids zu diskutieren. Die Gruppe der Fixer – die „Brüder“ – die beiden Schwulen – die „Freunde“ – und die „Schwestern“ sind täglich in der Szene unterwegs. Von den örtlichen Behörden und der Polizei mißtrauisch beobachtet, organisieren sie Seminare über homosexuelle Praktiken, verteilen Kondome und probieren Möglichkeiten zur Reinigung von Spritzbestecken für Drogenabhängige aus. „Eine für Vietnam neue Herausforderung erfordert auch neue, unkonventionelle Ansätze“, meint Gray Sattler, ein australischer Mitarbeiter von SCF und wendet sich wieder seiner Gummibanane zu, mit der er den Sitz eines Präservativs erklärt.

Offiziellen Angaben zufolge sind heute 1.800 Personen HIV- positiv, 107 an Aids erkrankt und 33 bereits an der Immunschwächekrankheit gestorben. An diese Zahlen jedoch mag keiner so recht glauben. „Wir können die Zahl der Infizierten nicht einmal richtig schätzen“, erklärt Do Hong Ngoc, Leiter des Gesundheitszentrums in Ho-Chi-Minh-Stadt. Letztes Jahr wurden gerade 150.000 Blutproben landesweit einer HIV-Kontrolle unterzogen. Und untersucht würden nur Drogensüchtige und Prostituierte, die die Polizei auf der Straße aufgreift. „Realistisch ist aber sicherlich eine hundertmal höhere Zahl von Infizierten.“

Obwohl die Regierung damit begonnen hat, Aufklärungskampagnen in Zeitungen, im Fernsehen und in den Schulen durchzuführen, wissen nur sehr wenige, wie die Krankheit übertragen wird. Das vor zwei Jahren gegründete Nationale Aids-Komitee hat eine entsprechende Befragung durchgeführt. Nur drei Prozent der Teilnehmer in Hanoi und nur neun Prozent in Ho-Chi-Minh-Stadt konnten ein „vollständiges Wissen über Aids“ vorweisen. Vollständiges Wissen bedeutet hier, einfache Fragen richtig beantworten zu können. Eine Studie der regierungsunabhängigen Organisation „Care international“ hat herausgefunden, daß zwar 97 Prozent der Befragten schon etwas von Aids gehört haben, aber nur 20 Prozent der Meinung sind, sie könnten davon auch betroffen sein.

Aids kam nach Asien, so der thailändische Bevölkerungsexperte und Ex-Gesundheitsminister Meechai Wirawaidja, wie eine unheimliche „Flut in der Nacht“. Derzeit breitet sich die Krankheit so rasend schnell aus, daß Wissenschaftler überzeugt sind, auf diesem Kontinent, dem bevölkerungsreichsten der Welt, würden künftig mehr Menschen an Aids sterben als irgendwo sonst. Horrorvisionen, die auch vietnamesischen Gesundheitsexperten schwer im Magen liegen. Hat man doch mit dem Nachbarland Thailand vor Augen, was Vietnam in den kommenden Jahren erwartet. Dort sind in den nördlichen Gebieten schon fast fünf Prozent der Gesamtbevölkerung HIV-infiziert. In den „Sexhochburgen“ Pattaya und Chiang Mai sollen bis zu 80 Prozent der sich prostituierenden Frauen und Mädchen bereits vom Virus befallen sein.

Vietnam, ein Land im Aufbruch, das seit der Öffnung vor wenigen Jahren traumhafte ökonomische Zuwachsraten verkünden kann, droht eine neue Invasion. Zwanzig Jahre nach dem Ende des barbarischen zweiten Indochinakrieges, der zwei Millionen Tote forderte, sind es diesmal nicht amerikanische GIs, die ins Land einfallen. Geschäftsleute internationaler Konzerne stehen Schlange im Run auf neue Absatzmärkte. Freizügigste Investitionsbedingungen und billige, gut ausgebildete Arbeitskräfte locken. Der Tourismus boomt, Reiseagenturen preisen unberührte Landschaften, traumhafte Strände und mandeläugige Schönheiten an. Schon jetzt kommen täglich 15.000 Ausländer ins Land. Und mit der Liberalisierung und der Propagierung von Privatinitiative erlebt auch ein altes Gewerbe neuen Aufschwung – die Prostitution.

„Lernt aus unseren Fehlern“, hat Thailands Seuchenexperte Meechai die Nachbarländer gewarnt. Aber es ist schon zu spät. In Ho-Chi-Minh-Stadt, vormals Saigon, geht es nachts heute so zu wie vor 20 Jahren, vor dem Ende des Krieges. 50.000 Prostituierte hat die Stadt bereits wieder im Angebot, in ganz Vietnam sind es mehr als 600.000. Internationale Hilfsorganisationen wie „terre des hommes“ befürchten, Vietnam könnte Thailand bald den Rang als Paradies für Sextouristen streitig machen. Die Frauen seien billiger und „unverbrauchter“. Kondome werden nur selten benutzt, und die Gefahr, sich mit Aids zu infizieren, sei geringer als in Thailand – noch.

Es ist Sonntag abend, 20.00 Uhr. Im vietnamesischen Staatsfernsehen laufen gerade die allwöchentlichen „Gesundheitsspots“. Ein Foto wird gezeigt, darauf ein pinkfarbenes Herz, ein Mann und eine Frau, die eng nebeneinander stehen. Eine sanfte Frauenstimme haucht dazu: „Sei vorsichtig!“ Die Streetworkerin Hoa und ihre „Schwestern“ haben für solcherlei Werbung keinen Blick. Sie besprechen die Route für die heutige Nacht. Die 38jährige, die selbst jahrelang auf den Strich ging, gibt noch einige Hinweise. „Mädels, ihr müßt so tun, als ob ihr dazugehört. Sonst gibt es Ärger mit den Zuhältern. Also nicht auffallen und immer wieder die Frauen ansprechen. Reden, reden, reden.“

Hoa geht heute ins Rotlichtviertel in der Dong-Du-Straße. Hier stehen die Frauen der „ersten Kategorie“, das heißt: die teuersten. 70.000 bis 100.000 Dong (etwa 7 bis 10 Dollar) verdienen die „Blumen der Nacht“, wie sie euphemistisch genannt werden, pro Nummer. Diese Edelprostituierten bieten sich vor allem ausländischen Touristen und Geschäftsleuten an. Erster Anlaufpunkt: Die Diskothek „Tu Do“ (Freiheit), ein berüchtigter Anmachschuppen. Hier stehen die grell geschminkten und nobel gekleideten Frauen auf der Treppe und warten auf Gäste. Ein einfaches Prinzip, denn die Gäste können im Vorübergehen eine Tanzpartnerin mitnehmen.

In dieser Szenerie fällt es Hoa schwer, ins Gespräch zu kommen. Schon am Eingang wird sie von muskelbepackten Zuhältern zurückgewiesen. „Es ist wirklich gefährlich“, sagt sie, „die Typen haben Angst, daß wir ihnen das Geschäft versauen. Die können dann auch richtig aggressiv werden.“

Ihre mit Gratis-Kondomen gefüllten Taschen sind nur um weniges leerer geworden. Einige Straßen weiter drücken sich Frauen und Mädchen der „dritten Kategorie“, wie sie Hoa nennt, an die Häuserwand. Dritte Kategorie bedeutet, daß die Nummer etwa 10.000 Dong (1 Dollar) kostet. Billigangebot für vietnamesische Männer. „Ausländer verirren sich nicht hierher“, erklärt Hoa. Und wenn, „dann würden sie nicht merken, was hier passiert“.

Auch wenn das Bild der „Bumsbomber“ aus Europa, die Kurs auf Bangkok, Manila oder eben auch auf Ho-Chi-Minh-Stadt nehmen, stimmt – es sind nicht vorrangig die sexlüsternen Ausländer, die zum Boom des Geschäftes mit der Lust beitragen. Prostitution hat in der konfuzianistisch geprägten vietnamesischen Gesellschaft eine lange Tradition. Noch immer ist es üblich und weitgehend akzeptiert, daß junge Männer ihre ersten sexuellen Erfahrungen in Bordellen machen, daß sich ein Ehemann mit einer Dirne vergnügt, während daheim die monogame Hausfrau die Familie umhegt. Der Besuch von Prostituierten ist für vietnamesische Männer fast so normal wie für den Deutschen sein Bier nach Feierabend.

Die Huren stehen am Straßenrand oder hocken am Rinnstein. 16 Jahre alt sind die Jüngsten, die Ältesten maximal 30. Alle haben Fahrräder oder Mopeds dabei. „Sie müssen mobil sein“, erklärt Hoa, „denn seit die Polizei vor einem halben Jahr zu einer großen Kampagne geblasen hat, gibt es immer wieder Razzien.“

Schon vor zwei Jahren hat der vietnamesische Premier Vo Van Kiet der Prostitution den Kampf angesagt. Die Polizei wurde angehalten, alle Restaurants und Cafés, in denen die Huren arbeiten, zu schließen. Hunderte Frauen und Mädchen wurden in Umerziehungslager geschickt. Lager, die sich „Erziehungs- und Ausbildungszentren“ nennen und bereits seit 1975 im Land existieren. Als die Kommunisten damals in Südvietnam einmarschierten, fanden sie über 500.000 „schlechte Mädchen“ allein in Saigon vor – Gespielinnen der US-amerikanischen GIs. Prostitution aber durfte es im Sozialismus nicht geben, in „Säuberungsaktionen“ wurden die Frauen und Mädchen zu Tausenden eingesammelt und in „Umerziehungslager“ gebracht. Hier sollten sie in einem 6-Monats-Kurs einen neuen Beruf erlernen, der ihnen den Ausstieg aus dem horizontalen Gewerbe ermöglicht.

Heute, zwanzig Jahre später, ist die Idee noch immer dieselbe, nur die Dimension hat sich verändert. Die Drogen- und Prostituiertenlager spannen sich wie ein Netz über das ganze Land, knapp 50 sind es jetzt. Vor einem halben Jahr hat die vietnamesische Regierung das Büro zur „Bekämpfung sozialer Übel“ geschaffen, als Reaktion auf die ansteigende Zahl der HIV-Positiven im Land. Per Gesetz wurde diesem Büro vor allem eine Aufgabe zugeteilt: Die Betreuung der „Rehabilitationszentren“ und deren Ausbau. In zwei Jahren soll jede der 53 Provinzen Vietnams über ein Drogen- und ein Prostituiertencamp verfügen.

In einem dieser Lager in Thu Duc, 12 Kilometer außerhalb von Ho-Chi-Minh-Stadt, leben über 700 Frauen. Hoa war eine von ihnen. „Wir konnten wählen zwischen Streichholzschachteln kleben, Bastmatten flechten oder Stoffblumen wickeln. Mühselige Arbeiten. Und damit soll man sich eine neue Existenz aufbauen?“

Eine 17jährige wird von einem Freier angesprochen, die Verhandlung geht schnell, der Preis ist bekannt. Die beiden verschwinden in einem der Häuser in den engen Nebengassen. Dort vermieten „sonst ganz ordentliche Familien“ Zimmer. Alte Männer sitzen vor diesen billigen Absteigen, die noch nicht mal ein Waschbecken haben, und dirigieren den Publikumsverkehr. Hoa kennt sich hier aus, es ist ihr altes Revier. „Ich spreche mit vielen Frauen. Aber ich bekomme immer wieder zu hören: „Weißt du Hoa, es ist mir egal, was mit mir in der Zukunft passiert. Ob ich Aids bekomme oder nicht. Ich muß Geld verdienen, damit ich die nächste Woche überlebe. Und wenn die Freier keine Kondome wollen, dann benutze ich auch keine.“ Die kleine Frau sieht müde aus. „Manchmal denke ich, meine Arbeit ist sinnlos. Es gibt bei uns ein Sprichwort: ,Die Tränen fließen erst, wenn wir am Grab stehen.‘ Es scheint wahr zu sein.“