„Demokratie bedeutet Freiheit für alle“

■ 150.000 demonstrieren in Italien gegen Überfälle auf Ausländer, mehr als 10.000 in Frankreich gegen die Ermordung eines jungen Komorers / Rechtsradikaler Politiker rechtfertigt die Tat

Rom/Paris (taz) – Es war fast schon ein internationaler Aktionstag gegen den Rassismus: In Italien und Frankreich gingen am Samstag in zahlreichen Städten Menschen auf die Straßen, um gegen Überfälle auf Immigranten und Juden zu protestieren. Allein in Rom demonstrierten 80.000 Menschen, in ganz Italien waren es mindestens 150.000. In Frankreich folgten weit über 10.000 einem Aufruf mehrerer Organisationen, Ibrahim Alis zu gedenken. Er war in der Nacht zum Mittwoch in Marseille von Plakatklebern der rechtsradikalen Front National erschossen worden.

„Wenigstens diesen einen Tag müssen Sinti und Roma, Afghanen und Nigerianer, Libyer und Inder bei uns keine Angst haben“, hieß es in einem Appell der italienischen Tageszeitung il manifesto. Die Demonstranten in den Straßen der großen italienischen Städte trugen Transparente mit der Aufschrift „Demokratie bedeutet Freiheit für alle“. Am Ende gab es auf den Piazze Musikdarbietungen bekannter italienischer wie ausländischer Künstler, viel Folklore und kostenlose Getränke und Süßigkeiten, gestiftet von den Geschäftsleuten.

Geladen hatten die drei großen Gewerkschaftsdachverbände CGIL, CISL und UIL, katholische und linke Bürgerinitiativen, Nachbarschaftshilfevereine sowie eine Reihe lokaler Vereinigungen. Nach mehreren Anschlägen auf Immigranten und Juden in und um Neapel, Rom, Assisi und Mailand und einer Welle der Sympathie für die Betroffenen hat die Demonstration gezeigt, daß ein ansehnlicher Teil der Italiener das Immigrantenproblem zu seiner Sache machen will. „Das allein gibt uns schon Mut und Auftrieb, auch weiterhin sinnvolle Rechte für uns zu fordern“, sagte ein Sprecher der afrikanischen Immigranten.

„Der Rassismus ist eine nationale Schande“ und „Le Pen – Mörder“ hieß es auf den Transparenten der Demonstranten in Frankreich, die Gerechtigkeit für den ermordeten 17jährigen Ibrahim Ali forderten. Jean-Marie Le Pen, Chef der Front National, möchte bei den Wahlen im April französischer Präsident werden. Ganz im Sinne der von den Komoren stammenden Familie des Opfers überwogen die stillen Proteste – eine Schweigeminute am alten Hafen von Marseille – und das immer wieder bekräftigte Vertrauen in die französische Justiz.

Ibrahim Ali war zusammen mit einer Gruppe von Freunden auf dem Heimweg von einer Rap-Session, wo die Jugendlichen für das nächste Konzert ihrer Gruppe „B Vice“ geprobt hatten. Die Jugendlichen rannten – schwer beladen mit Musikinstrumenten und Verstärkern – über die Straße, um den letzten Nachtbus zu erreichen, als Ali durch einen Schuß in den Rücken getötet wurde. Freunde von ihm, die fliehen konnten oder sich auf den Boden werfen und sich totstellen konnten, erklärten nach dem Verbrechen: „Die haben Schwarze laufen sehen und losgeschossen. Sie haben uns gejagt wie die Hasen.“ Auch Zeugen, die die Tat aus einer benachbarten Bar beobachteten, berichteten, daß die Schüsse völlig unvermittelt und ohne vorausgegangenen Streit gefallen seien.

Die Plakatkleber der Front National sind inzwischen inhaftiert. Alle drei sind Mitglieder der rechtsextremen Partei und waren mit Feuerwaffen unterwegs. Der tödliche Schuß, der Ibrahim Ali in den Rücken traf, kam aus der Pistole des 63jährigen Rentners Robert Lagier. Er hatte von seinem Wagen aus die Plakatklebeaktion seiner beiden Kollegen, eines 37jährigen Bauarbeiters und eines 41jährigen Schreiners, „gesichert“. Der Richter hat Anklage wegen vorsätzlichen Totschlags beziehungsweise Beihilfe sowie wegen Waffenbesitzes erhoben. Ein Führungsmitglied der Front National, Bruno Megret, der sofort nach dem Verbrechen nach Marseille gereist war, hatte die Tat am Tag danach öffentlich gerechtfertigt. Die drei Plakatkleber hätten, so Megret, in „legitimer Selbstverteidigung“ gehandelt. Wenn sie nicht als erste geschossen hätten, wäre „einer von ihnen der Tote“.

Französische Anti-Rassismus-Gruppen wollen das Führungsmitglied der Front National verklagen. Parteichef Le Pen, dessen Konterfei an der Mauer neben der Leiche des erschossenen Jugendlichen klebte, hat seinen Präsidentschaftswahlkampf keinen Augenblick unterbrochen. Gestern abend gab ihm das französische Fernsehen wieder einmal die Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Werner Raith/Dorothea Hahn