Heimliche Freude an erotischer Anarchie

■ Lulu als frohgemutes Sinnenweib, den Patriarchen zum Gefallen: eine fragwürdige Interpretation/ Premiere im Oldenburger Staatstheater

Der äußerst ambitionierte Spielplan des Oldenburgischen Staatstheaters ist um ein bedeutendes Werk des 20. Jahrhunderts reicher: „Lulu“ von Alban Berg, die – musikalisch gesehen – vergleichsweise sprödere Schwester von „Wozzeck“, 1937 uraufgeführt. Die Frage, wie das Verhältnis der Lulu Frank Wedekinds, jenem „schönen wilden Tier, jenem Prachtexemplar von Weib“ zu der Alban Bergs ist – „die geschaffen ist, Unheil zu stiften und zu morden“ –, stellt die Inszenierung des Schweden Claes Fellbom nicht. Er präsentiert uns eine äußerst aktive, auch lustige Lulu.

Herbert Wernicke hat vor zwölf Jahren in Hannover einen Ansatz gewagt, der aus Lulu ein „Unperson“ machte, weil er sie als Objekt der Projektionen der jeweiligen Männer zeigte. Er verzichtete sogar auf die Plausibilität ihrer Verführungs- und Anziehungskräfte. So weit muß man ja nicht gehen, aber eine weitere ungebrochene Präsentation der Lulu als „Prinzip“, als „Mythos“ gar wird einer heutigen Sicht nicht gerecht, auch nicht der Aussage Lulus: „Ich habe nie in der Welt etwas anderes erscheinen wollen, als wofür man mich genommen hat“. Fellbom versucht das zwar, indem er beim Szenenwechsel die Lulu auf offener Bühne – hinter einem Gitter – recht gewaltsam umziehen läßt, aber die Figur wird nicht in diesem Sinne durchgezeichnet.

Nun hat diese Kritik auch etwas Ungerechtes, denn die Aufführung stand unter erschwerten Bedingungen: Claudia Barainsky von der Semper-Oper Dresden hatte die erkrankte Hauptdarstellerin kurzfristig ersetzt und dankenswerterweise ganz einfach zunächst einmal die Premiere gerettet. Ihre Lulu ist von wirbelnder Schnelligkeit und für die anderen Beteiligten von tödlicher Selbstverständlichkeit und Direktheit. Trotzdem war aber auch an den Männerbildern spürbar, daß Fellbom eine Kritik an der patriarchalen Gesellschafts nur zaghaft wagt: Im Gegenteil wurde Dr. Schön, Biedermann und Gentleman, als d i e Identifikationsfigur für ein bürgerliches Publikum bestätigt. Kaum glaubt man ihm seine von Lulu erpreßte Unterschrift, mit der er seine Verlobung lösen wird, so souverän hat er sonst seine Doppelmoral im Griff (Bernard Lyon). Lulu spricht mehrfach davon, daß sie nicht erkannt, sondern benutzt und zerstört wurde. Diese nur latente Schicht, da Lulu selber ja keine Konsequenz aus dieser Einsicht zieht, wird noch nicht einmal angedeutet. Und dadurch läuft die in sich stimmige Inszenierung Gefahr, sich zum Vollzugsorgan dessen zu machen, was Wedekind und Berg anprangern wollte: die heimliche Freude der Bürger – hier der Zuschauer – an erotischer Anarchie. Genau das hörte man dann auch als Kritik aus dem Publikum: zu wenig sinnlich. Als ob es darum ginge!

Alwa (geschäftig Doyle Wilcox), der Maler (melodramatisch Alois Riedel), der Gymnasiast (ergreifend Irmlin Gödecke) und endlich die Gräfin Geschwitz (leidenschaftlich Marcia Bellamy), von Wedekind als die Hauptfigur der Tragödie angesehen: Die Inszenierung betont deren Untergehen durch Lulu, enthebt sie eigener Verantwortung. Berg hat scharf kontrastierende Schauplätze gewünscht, Fellbom und sein Bühnenbildner Joachim Griep machen das Gegenteil: Es gibt nur ein einziges Bild, das gleichzeitig als Wohnzimmer, Londoner Elendsmansarde und Gefängnis dienen soll.

Der dritte Akt, von Friedrich Cerha nach dem Fragment so kongenial rekonstruiert, daß er eigentlich immer gespielt werden sollte, muß hier einer wenig überzeugenden Lösung des Regisseurs weichen: Zur Lulu-Suite werden die Ereignisse nach dem Text von Frank Wedekind melodramatisch gespielt. Das nimmt ihnen jegliche Härte, jeglichen Realismus. Dieses aber wäre für Lulus letzte Station bis zu ihrem Tod doch erforderlich gewesen.

Die musikalische Wiedergabe unter der Leitung von Reinhard Seifried konnte sich hören lassen, war transparent und expressiv, nicht selten jedoch hätte man die Sänger besser verstehen dürfen. Gesungen wurde durchweg sehr gut. Trotz oder wegen aller Mängel: Die Thematik bleibt aktuell, und ebenso die erforderliche Reflexion darüber.

alzaurenze

Ute Schalz-Laurenze

Weitere Aufführungen: 3., 10., 25., u. 29. 3. um 19.30 im Staatstheater Oldenburg