3.000 Jahre nichts als Puzzeln

■ Im ehemaligen Stasi-Archiv in der Normannenstraße lagern 5.650 Säcke voller zerrissener Dokumente / Zuwenig Personal und Arbeit bis ins nächste Jahrtausend

„Wenn man die Arbeit hochrechnet, die hier in diesem Raum lagert, wird unser Laden bestimmt nicht so bald zugemacht“, meint Ute Michalski. Genau 5.650 Säcke voll mit zerrissenem Papier liegen im „Kupferkessel“ des ehemaligen Stasi-Archivs in der Normannenstraße, dem abhörsicheren Herz des Gebäudes. Um die Schriftstücke wieder zusammenzusetzen, erklärt die Mitarbeiterin der Gauck-Behörde, benötigten zwei Archivare pro Sack bis zu drei Monate – erst nach 2.825 Jahren hätten die beiden den Schnipselberg abgetragen.

Zu verdanken haben die Archivmitarbeiter diese Arbeit den Stasi-Hauptamtlichen, die bis zur Stürmung der MfS-Zentrale im Januar 1990 versucht haben, ihre Spuren zu beseitigen. Als die Reißwölfe heißliefen, gingen sie dazu über, die Unterlagen mit der Hand zu zerreißen. Die Reißwolfschnipsel – immerhin fast 7.000 Säcke – wurden inzwischen entsorgt. Aufbewahrt wurde nur eine Tüte der millimeterschmalen Streifen – zu Demonstrationszwecken für die Besucher des Archivs.

Alle per Hand zerrissenen Dokumente hingegen wurden in den Jahren 1990 und 1991 grob sortiert und in numerierte und beschriftete Säcke verpackt. Eigens für diese Aktion hatte man per Amtshilfe 80 Bundesgrenzschützer angefordert. Damals begannen die BGS-Leute auch noch, die Akten und Dokumente zu rekonstruieren. Doch kurz danach wurden sie wieder abgezogen, und es fehlte an Personal. Die dreifachen Stahltüren des „Kupferkessels“ werden also hauptsächlich nur noch für Besucher geöffnet, die dort die säuberlich aufgereihten Pappsäcke bestaunen können.

Drei Etagen über dem „Kupferkessel“ werden die Akten der Hauptabteilung „Volkswirtschaft“ archiviert. Im Büro der Archivarin stapeln sich bisher vor allem Aktenbündel, braune Pappsäcke finden vorerst nur als Müllbehälter Verwendung. Die 5.650 Säcke voller Papierschnipsel nimmt sie offensichtlich nicht als Belastung wahr. „Vor uns liegt noch eine Menge Arbeit, und irgendwann kommen die Säcke auch noch an die Reihe“, sagt sie gelassen.

Welche Qualifikationen muß sich eine Archivarin aneignen, um aus Papierschnipseln Akten zu rekonstruieren? „Ein Schriftstück zusammenpuzzeln, das kann eigentlich jeder“, ist ihre Antwort. Wie das im Detail gemacht wird, erläutert die zuständige Sachgebietsleiterin: Um die Papierschnipsel ausbreiten zu können, brauche man erst einmal eine Menge Platz, „einen Raum pro Sack“. Dann gehe es wie bei einem gewöhnlichen Puzzlespiel. Zuerst müsse man die Schnipsel farblich sortieren, dann Ecken und Ränder sammeln und zusammensetzen. Zusammengeklebt werden die Schnipsel nicht mit handelsüblichen Klebestreifen, sondern mit einen Spezialklebeband aus garantiert säurearmem Material; nur so bleibt das Papier dauerhaft unbeschädigt. Fehlt ein Puzzlestück, muß sein Platz leer bleiben. Im Gegensatz zu Restauratoren von Gemälden dürfen die Archivare fehlende Stücke nicht rekonstruieren.

Die eigentliche Archivarbeit beginne jedoch erst, wenn das Puzzle komplett ist, erläutert die Archivarin. „Um einschätzen zu können, wo ein Schriftstück herkommt und was es bedeutet, braucht man eine Menge Wissen.“ Spezialistin für Wirtschaft ist sie in den letzten Jahren geworden. Immerhin 8.000 Akten, das macht über 100 laufende Meter, der „Hauptabteilung Volkswirtschaft“ sind inzwischen über ihren Tisch gegangen.

Im „Kupferkessel“ wartet noch mehr als das Dreifache auf sie, zerrissen in zentimetergroße Stücke: 393 Säcke, umgerechnet 350 Aktenmeter voller Dokumente über die Wirtschaft der DDR, angefangen von Außenhandelsgeschäften bis hin zu Umweltkatastrophen.

Die letzten Geheimnisse, die sich dort verbergen, werden in diesem Jahrtausend wohl nicht mehr gelüftet. Es sei denn, die Gauck- Behörde stellt über 400 ihrer Mitarbeiter bis zur Jahrtausendwende zum Puzzlespielen ab. Doris Maassen