In glühendes Licht getaucht

Aufgelöste Körper und Personen: Retrospektive auf den Fotografen Andres Serrano, dessen Darstellungen von Jesus, Leichen und Gewalt 1989 zu einem Bildersturm der Republikaner geführt hatten, im New Yorker New Museum  ■ Von Stefan Matzig

Der Besucher der New Yorker Retrospektive des Fotografen Andres Serrano wird durchaus auf den Schock am Ende der Ausstellung vorbereitet. Er arbeitet sich im schlauchförmigen New Museum am Broadway parallel zu Serranos Biographie an schrillen Surrealismen aus der Frühzeit entlang, vorbei an seiner obzessiven Fixierung auf Blut, Milch und Pisse, und an Bildern, die eine befremdlich gleichsetzende Heroisierung von Opfern und Henkern betreiben. Permanent spielen die großformatigen, auf Plexiglas geschweißten Cibachromes in schwarzen Holzrahmen mit der Tabuverletzung.

Die Schockqualitäten seines Werks verhalfen Andres Serrano 1989 zum Durchbruch. Der bis dahin außerhalb der Szene wenig beachtete Fotograf wurde zur Zielscheibe einer Kampagne der American Family Association, der sich Fernsehprediger Pat Robertson und Oliver North angeschlossen hatten; seine Fotos wurden zu einem Wahlkampfthema der Rechten. Der republikanische weiße Südstaatensenator Jesse Helms beschimpfte den in Brooklyn geborenen Hispanic Serrano öffentlich als „Deppen“, und der Senat kürzte den Haushalt der NEA, der wichtigsten amerikanischen Kulturstiftung, exakt um die Höhe der Stipendien an Serrano und eine Robert-Mapplethorpe-Ausstellung.

Anlaß des Spektakels war die mit „Piss Christ“ betitelte leuchtend gelbe Aufnahme eines unscharf erscheinenden Kruzifixes in Altargröße, das in einem Behältnis, gefüllt mit Serranos Urin, schwebt. Jesus, als unantastbare Leidensfigur die Verkörperung des Heiligen, wird mit dem Profanen, dem Persönlichen, mit der Tabuzone „Pisse“ in Verbindung gebracht: „er wird in obszöner Weise in den Schmutz gezogen“, so Helms.

Wenn man jedoch von seinem poppigen Titel absieht, ist „Piss Christ“ durch und durch in der Tradition religiöser Darstellungen verhaftet. Es erinnert weniger an Schmutz und Körperflüssigkeiten als an die Spiritualität barocker Altarbilder. Serrano spielt nicht ironisch oder blasphemisch mit der Konfrontation beider. Bei ihm gehen die wenigen eingesetzten Mittel tatsächlich in barocker Weise Verbindungen ein: Das durch die Unschärfe nicht genau fixierbare Kruzifix und die dramatisch aufsteigenden Luftblasen im Urin werden eins; die Elektrizität der intensiven Rottöne des Kreuzes und die gelbe Flüssigkeit zieht alles zusammen. Bei der Serie „Immersions“ („Piss Discus“, „St.Michael's Blood“ etc.) geht es eben nicht nur um den Affront, sondern auch ganz wörtlich um die Auflösung und das Aufladen des toten Gottessohnes im Flüssigen und Strömenden – das Eintauchen und die Initiation des religiösen Symbols in „glühendem Licht“, wie Serrano Urin nannte.

Parallel zur provozierenden Reliquiendarstellung ziehen sich individuelle Ikonen durch Serranos gesamtes Werk, ebenso eine äußerst eindringliche und ernste Beschäftigung mit den verschiedensten historischen Bildwelten. Dabei bildet eine Reihe mit dem Titel „Immersions“ den Wendepunkt zwischen den Abstraktionen der Serie „Body Fluids“ und der Portraitfotografie zu „Nomads“. „Body Fluids“, 85–87 unter dem Einfluß der monochromen Arbeiten Yves Kleins entstanden, besteht aus großformatigen Tafeln, die das Verhalten der Körperflüssigkeiten Blut, Muttermilch und Urin beim Mischen untereinander oder im Verbund mit Erde auf Close-up- Fotos festhalten. Im Gegensatz zu Kleins meditativen blauen Flächen jedoch wirken die intensiv leuchtenden roten, gelben und weißen Farbflächen durch die glänzende Plexiglasabdeckung höchst aggressiv. Gärprozesse und Verfall anstelle von Kontemplation: In Serranos Tafel „Blood“ steht nicht die Möglichkeit zur versunkenen Teilhabe am Objekt im Mittelpunkt, sondern die Auseinandersetzung mit dem Leben.

Die Serie „Nomads“ macht schließlich den Sprung vom Körper zur Person. Mit der plakativen Sinnlichkeit eines Werbefotografen protraitierte Serrano im Winter 1990 New Yorker Obdachlose, die sich in einer Zeltstadt am Tompkins Square Park organisiert hatten. Sitzend und in entspannter Haltung aufgenommen, erscheinen sie bei Serrano ebensowenig als entrechtete oder gestrandete Individuen wie die eingeborenen Indianer auf den Aufnahmen von Edward Curtis am Ende des letzten Jahrhunderts. Vor dem kulissenhaften graublauen Fotohintergrund bleibt zusätzlich die soziale Situation, in der sie sich befinden, ausgeblendet.

Neben der Monumentalität der Cibachromes und der dezenten Formulierung, daß sie „Nomads“, nicht „Homeless“ sind, schrumpft die schmutzige dunkle Kleidung zu einem Zeichen. Abstrakte Obdachlosigkeit. Außerdem legen das hervorstechende Rot oder Gelb eines Kragens oder Tuches und ihr beinahe visionärer Blick zur Seite nahe, daß es bei den „Nomads“ weniger um Trebegänger als um Wandernde geht, deren Wurzellosigkeit die Portraits zwar durch konsequente Entpersönlichung nahelegen, gleichzeitig aber in der visuellen Überhöhung eine Aura des Einzigartigen wiederherstellen sollen. Als nahezu quadratische Blöcke, die in einem dunklen Grund abzutauchen scheinen, gleichen die Portraits europäischen Fürstenbildern, wie sie etwa Rembrandt gemalt hat. Den nomadisierenden Amerikanern, die auf der Straße sozial oder psychisch verfallen, folgen im letzten Raum der Ausstellung die Toten, deren materielle Auflösung bevorsteht und von der Kamera in beinahe psychotischer Weise vorweggenommen ist. Aufs höchste stilisiert, präsentiert die Serie „Morgue“ grell erleuchtete Leichen vor einem schwarzen Hintergrund; Detailaufnahmen mit geringer Tiefenschärfe produzieren beinahe abstrakt geometrische Konturen im Vordergrund, während im verschwimmenden Hintergrund die abgelichteten Körperteile schon in Verwesung übergehen. Wieder sind die Grenzen von Festem und Fließendem teilweise nicht mehr erkennbar – von einem verbrannten Schenkel etwa bleibt nur massenhaft zerfließendes Rot übrig.

Die Grenze zwischen Leben und Tod wird vollständig verwischt durch das Zitat von Michelangelos „Erschaffung Adams“. Die starren Hände eines Erstochenen sind zum Moment kurz vor der göttlichen Berührung geformt. Auf den Unterarmen sind blutige Male deutlich zu erkennen, die Fingerkuppen sind schwarz von Tinte, mit der die letzten Fingerabdrücke zur Registrierung der Leiche abgenommen wurden.

Die Betrachter des letzten Raums trauen sich erst nicht so recht hinzusehen oder näher an die Bilder heranzugehen und stehen schweigend da. Das Grauen wird etwas abgemildert durch die kühle Ästhetisierung der Bilder und ihre symmetrische Anordnung, die die Fantasie in Bahnen lenken. Was nach einer Weile bleibt, ist nicht das Grauen, sondern die Stille. Die Konsequenz des Schocks bei Serrano liegt im Zwang zur Besinnung. Bei allem Exzeß der Darstellung bleibt sein Anliegen zutiefst katholisch. Im Schrecken, der von den Bildern abstrahlt, schwingt noch jene Gewißheit mit, daß Leben bloß Übergang ist. Genau darin aber paßt der Tabubruch in den Kontext amerikanischer Popkultur, wie sie von Mike Kelley, Bob Flanagan oder selbst Madonna inszeniert wird.

Andres Serrano: „Works 1983–1993“. Bis 9. April im New York Museum, New York.