Choreographierte Angst vorm Liegen

■ Zur Philosophie des Fallens: Ein Gespräch mit Anne Teresa de Keersmaeker

taz: Seit der Premiere Ende November hat sich „Amor Constante“ stark verändert. Woran liegt das?

Anne Teresa de Keersmaeker: Choreographien sind etwas Lebendiges und nie wirklich abgeschlossen. Der Tanz wird stark von den Persönlichkeiten der einzelnen Tänzerinnen und Tänzer bestimmt, so daß allein schon eine Umbesetzung sehr viel verändert. Es ist häufig so, daß ein Stück bei der Premiere noch nicht so aussieht, wie ich es gerne hätte, so daß ich intensiv daran weiterarbeite. Im Fall von „Amor Constante“ habe ich sogar den Handlungsverlauf geändert, es ist jetzt kürzer und konzentrierter.

Gibt es im zeitgenössischen Tanz und speziell bei Ihnen ein anderes Thema als die Beziehung der Geschlechter?

Für den zeitgenössischen Tanz kann man das nicht so allgemein sagen, bei mir allerdings ist es tatsächlich so, daß das Thema im Mittelpunkt steht.

Könnte man sagen, daß Sie es in den „Concert Arias“ leicht und ironisch behandelt haben, während in „Amor Constante“ die tragische Version zu sehen ist?

Hatten Sie tatsächlich diesen Eindruck?

Ich denke schon, daß in den „Concert Arias“ ein augenzwinkernder Umgang mit Liebesschmerz und Liebesfreud vorherrscht.

Ich weiß, was Sie meinen, aber das hat doch eher etwas mit Mozarts vor 200 Jahren komponierten Arien zu tun. Im Falle von „Amor Constante“ ging ich mit einer Musik um, die Thierry de Mey heute geschrieben hat und die widerspiegelt, daß sich unsere Empfindung dafür, was in der Liebe zwischen Mann und Frau möglich ist, inzwischen völlig geändert hat.

In den „Concert Arias“ verwendeten Sie Mozart, bei „Achterland“ Ligeti, bei „Ottone, Ottone“ Monteverdi, also sehr unterschiedliche musikalische Folien. Ist in Ihren Choreographien zuerst die Musik da, aus der Sie dann eine Tanzidee entwickeln, oder umgekehrt?

Das verändert sich von einer Choreographie zur anderen. Manchmal bin ich sehr nahe an der Struktur der Musik, manchmal benutzt der Tanz die Musik lediglich als eine Art emotionale Bühne. In den meisten Fällen allerdings möchte ich zu einer bestimmten Musik choreographieren und entwickle es aus der Musik heraus. Im Falle von „Amor Constante“ war zuerst das Gedicht von Quevedo, dann kam die Musik von Thierry de Mey, so daß ich verschiedene Ausgangspunkte in Form von Worten und Musik hatte.

Wenn man Ihren Tänzerinnen und Tänzern zusieht, hat man den Eindruck, daß verschiedene Areale auf der Bühne mit verschiedenen Energien aufgeladen sind und Bewegungen hervorrufen, und daß sich die Musik teilweise wie eine Welle in den Körpern fortpflanzt.

Der Eindruck kann sehr gut entstehen, da ich häufig den Bühnenraum einteile, verschiedene Erzählstränge an Areale binde und sie damit erzählerisch auflade. Musik und Körper? Ich kann das vielleicht so sagen: Man spricht mittels Bewegung, und ich arbeite diese Sprache bis in die kleinsten Details aus, bis in Finger- und Fußbewegungen.

Wieso hat in „Amor Constante“ gerde die Spirale eine so große Bedeutung?

Die Spirale ist die organischste Form, die es gibt und eng mit Wachstum und Sterben zusammenhängt. Durch Spiralen sind Gegensätze verbunden, Männliches und Weibliches, Positives und Negatives. Es ist die einzige Form, die eine Kreis- und Vorwärtsbewegung miteinander verbindet. Es gibt die Spirale überall, wo man hinsieht. In den eigenen Handflächen, bei gekräuseltem Haar, beim Wachstum von Pflanzen. In der östlichen Philosophie heißt es, daß Himmel und Erde durch unendliche Spiralen miteinander verbunden sind.

Ihre Tänzerinnen und Tänzer lassen sich häufig aberwitzig schnell in einer spiralförmigen Abwärtsbewegung fallen, um genauso schnell wieder in die Vertikale zu kommen. Hat das etwas mit Kontrollverlust und dem Versuch zu tun, die Kontrolle wiederzuerlangen?

Ich würde sagen, es hat mit Sterben zu tun und damit, daß das Liegen die Position ist, die uns am meisten Angst einflößt. Wir legen uns nur hin, wenn wir schlafen, krank sind oder sterben. Interview: Jürgen Berger