Getanzter Calvinismus

Selbst beim Thema Liebe muß Tanz kalt sein wie Beton: „Amor Constante Más Allá de la Muerte“, das Tanzprojekt in Progreß der flämischen Meister-Choreographin Anne Teresa de Keersmaeker, gastiert zur Zeit in Paris  ■ Von Arnd Wesemann

Weichgekochte Eier nennt die spanische Sprache nicht umsonst schlecht gekocht: mal cocido. Und vor nichts fürchtet sich die flämische Choreographin Anne Teresa de Keersmaeker mehr, als vor halbgaren Arbeiten, denen die Spur des Rohen als einem Naturzustand noch anhaftet. Selbst wenn sie zu Beginn ihrer jüngsten Choreographie ihre Tänzerinnen und Tänzer „einführt“, sie als „Personen“ noch kenntlich macht, sind sie längst schon zu seltsam körperlosen Wesen, zu reinen Tanzelementen diffundiert. Tanz, das ist für Belgiens erste Choreographin nichts anderes mehr als eine physikalische, geometrische, mathematische oder gar alchemistische Herausforderung.

Die choreographische Abstraktion wird nach Zahlen gegliedert, die Architektur der Bewegungen spiralenförmig angeordnet. Keinesfalls darf hieraus Schönheit oder gar Sinnlichkeit entsteigen. Nein, Tanz muß kalt wie Beton und aus einem Guß sein – den Charme eines kunstvollen, wehrfähigen Bunkers abstrahlen. Getanzter Calvinismus.

Die 1960 in Mechelen bei Antwerpen geborene Anne Teresa de Keersmaeker gehört seit 1985 zur Spitzenriege der internationalen Choreographen. Früh fand sie zu einer eigenen, hermetischen Tanzsprache, die auf der Überlegung beruht, Musik weder tänzerisch abzubilden noch sie zu ignorieren, sondern „zwischen den Tönen zu tanzen“. Am eindrucksvollsten gelang ihr dies 1993 mit „BACH/ Creation“. Im Frühjahr 1994 entstand „Kinok“ zusammen mit ihrem langjährigen Komponisten Thierry de Mey. „Kinok“ ist ein russischer Filmbegriff für die Imitation der Augenbewegung durch die Kamera. Der Titel der aktualisierten und erweiterten Fassung geht auf ein Poem des spanischen Renaissancedichters Francisco Gómez de Quevedo y Villegas zurück: „Amor Constante Más Allá de la Muerte“ (ungefähr: Liebe geht über den Tod hinaus).

Liebe und Calvinismus: Das meint, die Liebe unkenntlich zu machen, ihr nur durch ihre Abwesenheit Poesie zu verleihen. So gibt es bei Anne Teresa keinen Pas de deux, der nicht zerbricht, und keinen Körper, der in seinen Bewegungen nicht Teil einer undurchschaubar, doch genauen Tanzmaschinerie würde – ohne je die Gewalt eines Rhythmus oder die Kraft einer Wiederholung anzunehmen. Thierry de Meys Musik gleicht an manchen Stellen erbärmlichen Schabengeräuschen und vibrierendem Insektengewimmel. Währenddessen zerlegt de Keersmaeker alle Bewegungen innerhalb der sieben Bilder (mit immerhin sieben Kostümwechseln) in Strukturen. Jeden Ansatz von Virtuosität zerreibt der Tanz in mathematisch anmutende Differentiale und entwickelt den Eindruck von getanzter, fraktaler Geometrie.

Im chaotisch geordneten Strudel der Teilchenpyhsik findet sich de Keersmaekers Tanzambition eher wieder, als in einem wie auch immer gearteten Stück, das auf Abbildung zielt. Liegen die Tänzer am Boden und eine Lampe mit einem Mikrophon am Lampenschirm pendelt über sie hinweg, so geht es keineswegs um die Worte, die die Tänzer aussprechen, sondern um das Prinzip des Zufalls im Zusammentreffen von sprechender Stimme und pendelndem Mikrophon. De Keersmaeker liebt, wie viele ihrer Kolleginnen, die beredte Gebärdensprache der Gehörlosen als streng kodifizierte Tanztheaterpantomime. Überall anders wird ein witziges Stück Theater daraus; nur bei Anne Teresa de Keersmaeker entsteht jener beklemmende Versuch, im Chaos verzweifelt japsend eine Aussage zu finden, die stumm verhallt.

Die zwölf Percussionisten des „Ictus Ensemble“ arbeiten präzise, doch nur ein einziges Mal tritt ein gewisses rhythmisches Temperament zu Tage; eine Abbildung solcher Momente im Tanz läßt die Choreographie nicht zu. Denn es könnte jene einfache Lust entstehen, auf die wahrscheinlich kein einziges Atom der Welt in seiner Gesetzmäßigkeit zustrebt: Wirkliche Symmetrie und Harmonie gibt es nicht; alle physikalische Welt erscheint als bloßes Driften um ein nur ideales Zentrum. De Keersmaeker montiert den Tanz ähnlich einer DNS-Kette, die sich an jeder beliebigen aber unvorhergesehenen Stelle spalten kann, so wie jedes Atom an einer offenbar zufälligen Stelle auf ein anderes trifft. Harmonie ist dabei das nur gedachte Ideal einer tatsächlich chaotischen Mechanik dieser Welt. Und de Keersmaekers Tanzprozeß folgt dieser Atomisierung minutiös, folgt dabei auch Überlegungen des Malers Paul Klee: „Löse ich mich vom Zentrum in immer freier werdender Bewegung los? oder: Werden meine Bewegungen von einem Zentrum immer mehr gebunden, bis es mich schließlich ganz verschlingt?“

Im Driften der Tänzer gibt es keine Subjektivität, außer einer spekulativen wie bei Klee: Am Ende stolpert jeder Tänzer, stolpert in die Freiheit eines ganzen Universums möglicher Bewegungen. Bis er fällt. Im Zentrum aber angelangt, ist ihm keine Bewegung mehr möglich. Entsprechend scheint die Choreographie bei de Keersmaeker auf der Stelle zu tanzen, um sich selbst zusammenzuhalten, und wirkt darin tatsächlich wie ein hartgekochtes Ei – in Schale geworfen zwar, doch bei aller Bewegung zutiefst unbewegend. Die Ordnung triumphiert über die Fliehkraft. Ihr auf hohem Niveau getanzter Abend ist eine faszinierende Motion, nur die Emotion fehlt.

„Kinok“, bis 4. 3. im ThéÛtre de la Ville, Paris; am 5. und 6. Mai gastiert De Keersmaeker zur „Dance 95“ in München; am 31. 5. und 1. 6. dann am Schauspiel Frankfurt.