Einheit wovon, Einheit wofür?

Multikulturalismus in den USA: Wie er wurde, was er ist / Die Vielheit der Kulturen wird nicht mehr von der Einheit der amerikanischen Gesellschaftsidee zusammengehalten  ■ Von Reginald Grünenberg

Zuerst ging es nur um die Reform der Lehrpläne an den Schulen und Universitäten. Ethnische Gruppen wollten ihre eigene Herkunft, Kultur und Geschichte studieren und auf diese Weise ihre Identität festigen. Die „neue Linke“, die Frauen- und Schwulenbewegungen haben sich als „Minderheiten“ eingeklinkt. Zusammen machten sie sich dann auf die Suche nach einer wissenschaftlich klingenden Selbstbeschreibung. Der aus Kanada importierte und bis dahin unproblematische Begriff „Multikulturalismus“ wurde dazu am Ende der 80er Jahre umgebaut in eine rhetorische Waffe für öffentliche, politische Konflikte. In kürzester Zeit hat der Kulturkampf auch die rechtliche und wirtschaftliche Sphäre erreicht. Die Vokabeln political correctness und hate speech sind erste Elemente der sich daraus entwickelnden Verfolgungslogik. Berndt Ostendorf, Professor für Amerikanistik und Direktor des Münchener Amerika-Instituts, hat nun einen üppigen Sammelband über diesen speziellen Mulitkulturalismus in den USA herausgebracht. Vierzehn deutsche und amerikanische Forscher hatten sich 1993 in Berlin getroffen, um Integrationsleistungen sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten des Vielvölkerstaats USA zu untersuchen. Das daraus entstandene Buch präsentiert die Geschichte der amerikanischen Einwanderung, Erfahrungsberichte aus multikultureller Stadt- und Schulpolitik sowie Überlegungen zu einer Rahmentheorie für multikulturelle Gesellschaften, die bisher fehlt.

Der Titel des Buches „Multikulturelle Gesellschaft. Modell Amerika?“ ist mit einem Fragezeichen versehen, das auf dem Umschlag fehlt. Der Inhalt macht überdeutlich, daß dieses versteckte Zeichen für eine skeptische, ja sogar pessimistische Beurteilung der Lage steht. Die Vielheit der Kulturen wird nicht mehr zusammengehalten von der Einheit der amerikanischen Gesellschaft. Die Entwicklung ethnischer Autonomie stellt die historisch wichtigste Tradition der Vereinigten Staaten in Frage. Das ist der von Jürgen Puhle (Politologie, Frankfurt a. M.) erörterte amerikanischen Begriff consensus, womit die Zusammengehörigkeit von Besitzindividualismus, Freiheitsrechten und Partizipationschancen gemeint ist. Von den Autoren, auch den politisch deutlich links einzuordnenden, bestreitet keiner mehr die außerordentliche Leistungs- und Anpassungsfähigkeit dieser Art von Zivilreligion.

Kurt Shell (Politologe, Frankfurt a. M.) untersucht dazu passend in einer eindringlichen Darstellung die Spuren des Wandels vom historischen Individual- zum Gruppenrecht in der Verfassungsrechtsprechung. Das heißt nichts weniger, als daß individuelle Identität immer häufiger erst durch Gruppenmitgliedschaft definiert wird – eine mit dem Individualismus der Gründerväter und -mütter unvereinbare Auffassung.

Einheit und differente Vielheit ist auch das Thema des gelehrtesten und faszinierendsten Beitrags des Bandes von Werner Sollors (Literatur; nicht umsonst: Harvard), denn er untersucht das Motto auf der amerikanischen Eindollarnote: pluribus unum, aus vielen das eine. Gemeint sind die Staaten und ihr Bund. Wie in den inzwischen bekannten fraktalen Zahlenwelten taucht immer wieder dieselbe Gestalt des Paradoxes von Vielheit als Einheit auf, ganz gleich wie tief Sollors in die historischen Dimensionen des Wurzelwerks dieses Mottos vordringt. Bis wir plötzlich vor dem Sklaven Simulus und der Afrikanerin Scybale aus Vergils Gedicht „Moretum“ stehen, die gerade ein Knödelgericht mit Pesto zubereiten und über die Einheit der Farbe aus der Vielfalt der Zutaten sinnieren.

Der Sammelband ist wirklich lesenswert, aber es gibt auch ein paar ernste Probleme darin. Ostendorf plädiert nämlich für die Thematisierung von Einwanderung und Multikulturalismus unter Berücksichtigung dessen, was er mehrmals das „nationale Interesse“ der BRD nennt. Darunter versteht er die „postfordistischen Produktionsbedürfnisse“ der Industriegesellschaft. So weit, so seltsam. Dazu kommt aber, daß Ostendorf, der so treffend die Relativität der moralisierend-politischen Ansprüche der sich als Minderheiten stilisierenden Lobbyss bemerkt hat, die Relativität seines eigenen politischen Urteils nicht bemerkt. Die „Utopisten“ und „Ideologen“ (Cohn-Bendit u. a.), die er attackiert, ergreifen wenigstens noch eine von mehreren Parteien. Und wo geht's hier bitte zur Partei des „nationalen Interesses“? Ostendorf und einige seiner Kollegen glauben offensichtlich, es gebe einen Zugriff auf das Problem jenseits aller Parteilichkeit. Das ist ein echter u-topos im Sinne des Erfinders, ein Ort im Nirgends.

Fragt sich nur noch, wer die brauchbareren Utopisten sind! Es gibt keine unpolitische Lehre der mulitkulturellen Gesellschaft. Multikulturalismus kann durchaus eine Schrumpfform des Liberalismus sein, ein atomistischer Interessenausgleich, in dem nur die Gruppen zählen statt der Individuen. Das zeigt der Sammelband exemplarisch. In einer solchen zoologischen Veranstaltung des Weltgeistes hat Multikulti nichts mit Emanzipation zu tun, sondern genügt sich selbst als eines von vielen Mitteln zur Machtsteigerung. Diese Entwicklung zu durchkreuzen wäre ein eigenes politisches Programm. Der postmoderne Ansatz ist trotz des emanzipatorischen Ethos zu sehr verschwistert mit diesem liberalistischen Archetypus einer multikulturellen Gesellschaft.

Es wird eines aufklärerischen, am Begriff des Menschen orientierten Idealismus bedürfen, um die Wucht ethnisierter Politik als Durchsetzungsmaschine abzufangen. Und darüber kann man sich vielleicht auch verständigen: Hinter der Vielheit der Stimmen aller Kulturen steht immer noch die Einheit der Frage „Was ist der Mensch?“

Berndt Ostendorf (Hrsg.), „Multikulturelle Gesellschaft. Modell Amerika?“. München, Fink 1994, 269 S., 68 DM