■ Polemisches im Regierungslager zu den Menschenrechten
: Das Geflecht

Wenn es einen wunden Punkt der Liberalen gibt, dann ihren Liberalismus. Als Nationalliberale fühlen sie sich aufgerufen, deutsche Interessen, vulgo deutsche Exportinteressen, weltweit und nachdrücklich zu vertreten. Als Freisinnige liegen ihnen zu Hause die Bürger- und universell die Menschenrechte am Herzen. Diesen Zwiespalt bewältigt die FDP im Reich der internationalen Politik durch die Dialektik von Feierlichkeit und Profanität. Die hierauf aufgebaute Strategie hat einen doppelten Vorteil. Sie suggeriert den tyrannischen Regimen, man genüge mit offiziellen Ermahnungen, mit Gesten, mit der Übergabe von Listen Eingekerkerter etc. einer lästigen Pflicht, auf die das business as usual folgen könne. Denen aber, die das Gewissen plagt, wird versichert, die gesamte Außenpolitik der Bundesrepublik sei, wie ebendiese offiziellen Erklärungen und Interventionen beweisen, menschenrechtsorientiert. Nur wer die Brücken zu den Menschenschindern nicht einreiße, so wird uns versichert, der könne, sanft, aber nachdrücklich, Einfluß auf deren Innenpolitik nehmen. Und hat die „stille Politik“ nicht schon zahlreichen Opfern zur Freiheit verholfen?

Den Vorteilen dieser Politik steht ein schwerwiegender Nachteil entgegen: die Glaubwürdigkeitslücke. Denn im Lauf der Jahre wird selbst gutwilligen Beobachtern offenbar, wie wenig sich die Herrschenden in Teheran oder Peking um Herrn Kinkels intern und auch (maßvoll) öffentlich geäußerte menschenrechtliche Besorgnisse scheren. Es ist diese Lücke, die Heiner Geißler am letzten Wochenende kunstvoll zu erweitern suchte. Geißler ist bei der CDU nicht nur für Glaubensfragen (die letzten Dinge), sondern auch für Glaubwürdigkeitsfragen (die vorletzten Dinge) zuständig. Sein Vorwurf, Kinkel sei in Gefahr, die Menschenrechte auf dem Altar der Diplomatie und des Gewinns zu opfern, bemüht nicht nur auf subtile Weise eine biblische Geschichte, sondern trifft auch die FDP dort, wo es schmerzt. Am Selbstverständnis, dem schwankenden.

„Ich habe natürlich“, replizierte Kinkel, „als Außenminister im Gegensatz zu Herrn Geißler für das Gesamtgeflecht der außenpolitischen Beziehungen Verantwortung zu tragen, also auch für politische und Wirtschaftsfragen.“ Also Heiner, der Gesinnungs-, Kinkel aber der Verantwortungsethiker. Wie gerne würde er seine Wut über das Unrecht in die Welt herausschreien, aber – leider, leider – die Staatsräson hindert ihn daran. Niemand fühlt mit ihm, weil niemand ihm glaubt. Geißler hingegen hat nicht nur einen öffentlichkeitswirksamen Coup gegen die Liberalen gelandet. Er hat, Taktiker der er (auch) ist, ein weiteres Rauchzeichen ans andere Ufer gesendet, ins Reich der Bündnisgrünen, wo die Glaubwürdigkeit zu Hause ist. Christian Semler