Das Beben nach dem Beben

■ Der Börsenkrach in Tokio ist auch naturbedingt. Weshalb sich Nippons Bürokraten trotzdem freuten

Jesper Koll, Vize-Präsident der amerikanischen Investment-Bank Morgan Stanley in Tokio, war sich am Montag nach dem Einbruch an der Tokioter Börse ganz sicher: „Die Bürokraten im Finanzministerium trinken hier heute abend Champagner.“ Die Freude des japanischen Finanzministeriums am Niedergang der eigenen Börse – die das Haus in den Jahren zuvor noch mit öffentlichen Milliardenbeträgen gestützt hatte – hat Gründe: Im Fall der Londoner Baring's-Pleite hat sich nämlich die von den angelsächsischen Ländern verfochtene Liberalität auf den Weltfinanzmärkten einmal mehr ad adsurdum geführt.

Tokio, die Welthauptstadt der Börsenregulatoren, wo kein echtes Geschäft ohne das Mitwirken der Finanzbürokratie läuft, steht plötzlich gar nicht so schlecht da. Hatte das Ministerium in Tokio nicht immer wieder behauptet, die neuen Mittel – Termingeschäfte und ähnliche Wetten, die per Computer zwischen den Weltbörsen hin- und hergeschoben werden – seien noch nicht kontrollierbar? Auch der US-Experte Jesper Koll räumte gestern ein: „Mit unseren Computer-Kaufprogrammen fahren wir zur Zeit wie mit einem Porsche auf der Landstaße.“

Inzwischen fahndet die ganze Welt nach dem ausgerasteten Porschefahrer Nick Leeson, der in der Singapurer Niederlassung der Baring's Bank über eine Milliarde Mark beim Spiel mit dem Tokioter Nikkei-Aktienindex verlor. Er hatte Ende Dezember, als der Index auf 19.700 stand, auf einen Anstieg des Nikkei spekuliert. Gestern fiel er auf 16.808 Punkte – das ist der tiefste Stand seit fünfzehn Monaten.

Die fraglichen Termingeschäfte konnte Leeson übrigens auf japanischer Seite nur in Osaka tätigen, jenem japanischen Aktienmarkt, den die Regulatoren in Tokio schon seit Jahren wegen seiner großzügigeren Spielregeln kritisieren. Tatsächlich dürften die gestrigen Verluste des Nikkei in Tokio um 3,8 Prozent nur ein kleines Vorspiel für den bevorstehenden Einbruch am Aktienmarkt in Osaka sein.

Denn die fraglichen Termingeschäfte Leesons sind eben noch nicht abgewickelt. Allein der gestrige Einbruch des Nikkei beschert Baring's weitere Verluste von 411 Millionen Mark – ein entscheidener Grund, weshalb sich am Wochenende keine Käufer für die englische Bank fanden.

Die Pointe des Geschäfts erwartet man nun in Osaka: Wenn nämlich dort die Wetten Leesons im März fällig werden, Baring's jedoch zahlungsunfähig ist, reichen die Reserven der Börse von Osaka schon heute nicht aus, die vereinbarten Geschäfte regulär abzuwickeln. In einem solchen, in Japan bisher nicht vorgekommenen Fall müßten alle Börsenmitgieder entsprechend ihrer Kapitalisierung zuzahlen, um den ordentlichen Geschäftsablauf zu gewährleisten – eine unvorstellbare Schmach für den viertgrößten Aktienmarkt der Welt nach New York, Tokio und London.

Vor solchen Aussichten gerät die Frage, weshalb der Porsche Leesons die Landstraße überhaupt so katastrophenartig verließ, völlig in den Hintergrund. Wen scheren schließlich noch die Prognosen vom Jahresbeginn, als man Nippons Unternehmen einen ähnlichen Durchstart voraussagte, wie er im Jahr zuvor die deutsche Wirtschaft aus der Krise gerissen hatte? Darauf hatte Leeson freilich spekuliert und sah dabei eines nicht voraus: Das große Erdbeben von Kobe, das alle vorherigen Prognosen zumindest kurzfristig über den Haufen warf, und in keiner noch so fortschrittlichen Finanz-Software einprogrammiert werden konnte. War es also die Natur, die den Finanzbürokraten in Tokio diesmal recht gab? Georg Blume, Tokio