■ Gedanken angesichts des Kollapses der Baring's Bank
: Neoliberalismus als neue Religion?

Endlich von der lästigen Ost- West-Spannung und der damit verbundenen falschen Alternative einer sozialistischen Planwirtschaft befreit, ist die liberale Marktwirtschaft im Begriff, auch im Westen die Reste der Fesseln abzustreifen, die ihr von sozialen Bewegungen und Ökonomen wie Keynes in den letzten hundert Jahren angelegt wurden. Von ihrem neuen Zentrum Chicago aus tritt sie unter dem Banner des Neoliberalismus ihren Siegeszug um die Welt an. Ihr erklärtes Ziel: den Markt dem freien Spiel der Kräfte des Wettbewerbs zu überlassen, ein Wohlfahrtskonzept, das diese Kräfte als einziges Regulativ anerkannt und zur Quelle nicht nur gesellschaftlichen Reichtums, sondern letzten Endes auch zur Quelle individuellen Wohlergehens erhoben hat.

Die dem Neoliberalismus zugrunde liegende Auffassung, daß die Freiheit des Menschen vor allem im Schutz des Eigentums und seiner ungehinderten Nutzung, verbunden mit dem ebenso ungehinderten Austausch der produzierten Güter, begründet liege, ist nicht neu. In der amerikanischen „Bill of Rights“ und im Menschenrechts-Codex der Französischen Revolution wurden schon jene Grundrechte schriftlich fixiert, die bis heute zu den unverzichtbaren Gütern jedes Rechtsstaates gehören: der durch unabhängige Gerichte gesicherte Schutz von Freiheit, Gleichheit und Eigentum. Das von liberalen Ökonomen seither erklärte Ziel: Abschaffung jeder künstlichen Beschränkung von Handel und Industrie, damit die Menschen frei seien, ihre persönlichen Interessen verfolgen zu können.

Die Idee des Fortschritts führte schließlich im 19. Jahrhundert zu jenem Entwicklungskonzept, das Charles Darwin als Gesetz des „survival of the fittest“ formuliert hatte. Als „Kampf ums Dasein“ ist dieses Prinzip der Entwicklung der Arten schließlich zum geflügelten Wort für die Beschreibung liberaler Wirtschafts- und Gesellschaftsprozesse geworden. Bis heute gibt es keine einflußreiche Wirtschaftslehre, die nicht in irgendeiner Weise auf dem freien Wettbewerb als Grundlage für Fortschritt, Wachstum und gesellschaftlichen Wohlstand aufbaut. Und für den Neoliberalismus ist das Gesetz Darwins das einzige Gesetz, das er gelten läßt – allerdings etwas feiner formuliert: an die Stelle von „survival of the fittest“ ist „laissez-faire“ getreten.

Begreift man Ökonomie als Sozialwissenschaft, was sie auch sein sollte, will sie irgendeine für die Gesellschaft relevante Aussage machen, kann die Geschichte der politischen und sozialen Bewegungen als Geschichte des Scheiterns des radikalen Wirtschaftsliberalismus gelesen werden. Gerade die sozialistischen wie faschistischen Gesellschaften dieses Jahrhunderts haben sich ja nicht außerhalb des ökonomischen Prozesses entwickelt, sondern waren stets Teil der Weltwirtschaft. Beide haben sich als Antwort auf den Liberalismus begriffen, und beide haben Teile des Liberalismus radikalisiert: in der Nazi-Gesellschaft kehrte die Idee des Fortschritts in Eugenie, Aufnordung und Lebensborn in die Wildnis der Artenwelt zurück, während sich für die sozialistischen Gesellschaften dieselbe Idee wie bei archaischen Stammesgesellschaften auf ein reines Verteilungsproblem reduzierte. Beide Gesellschaften haben die Maxime des Wettbewerbs in einen Kampfbegriff zurück übertragen: Kampf der Rassen oder Kampf der Klassen. Anstatt die begründete Kritik am Liberalismus aufzunehmen, um die Gesellschaft in eine humane und den Individuen gerechte Gesellschaft zu verwandeln, haben sich die politischen Antworten auf den Liberalismus stets auf ursprungsmythische Wahngebilde bezogen: hier die germanische Urhorde und dort das Paradies der urkommunistischen Stammesgesellschaft.

Die katastrophale soziale wie ökonomische Situation, in der sich die Mehrzahl der Menschen dank Staats- oder liberaler Monopolwirtschaft zur Zeit befinden, hat allgemeine Angst, auch Lethargie ausgelöst, aber nicht zu der Einsicht geführt, daß eine ganze Epoche der Weltwirtschaft gescheitert ist und daß alle den gesellschaftlichen Zusammenhalt organisierenden sozialen Imperative der Humanität und der Moral weltweit im Zerfall begriffen sind.

Alle modischen Themen, von der Postmoderne bis zum vermeintlichen Ende der Geschichte oder dem Eintritt in ein neues Zeitalter absoluter Freiheit, sind allein Ausdruck einer spezifischen gesellschaftlichen Verfassung, Symptome einer ganz allgemeinen Krise, in der sich Wirtschaft und Gesellschaft befinden.

Daß sich die Wirtschaft zu Teilen längst in Händen von internationalen Banden befindet, ist kein Geheimnis. Die Drogenkartelle, die Waffenkartelle, die Banden auf den informellen Märkten in Ost und West, die von gewöhnlicher Konterbande bis zum Plutonium fast alles verkaufen, sie alle waschen ihr illegal erworbenes Kapital im Archipelagos der Restwirtschaft, die selbst wiederum, allein von Monopolen kontrolliert, alle sozialen Bindungen und Verpflichtungen aufgegeben hat. Die mit der Herrschaft der Kartelle verbundenen unkontrollierten Kapitalmengen haben bereits in vielen Ländern zu einer enormen Verwilderung der Gesellschaft beigetragen; ein Phänomen, das der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Butros Ghali, als größte Gefahr für den Frieden in der Welt bezeichnet hat, weil die Kartelle ihre ungeheuren Mengen spekulativen Kapitals in kürzester Zeit in jeden beliebigen Krisenherd transferieren und damit bewaffnete Konflikte größten Ausmaßes schüren können.

Dieser Wildnis korrespondiert in den zerfallenden Gesellschaften eine allgemeine Gewaltbereitschaft und ein Gewaltbedürfnis, das sich in Bürgerkriegen und Religions- und Nationalitätenkonflikten entlädt oder als Alltagsgewalt, im Bandenwesen der Kids auf den Schulhöfen und in den Elendsquartieren, die Aufmerksamkeit der Medien erregt. Man könnte auch sagen, die von der Wirtschaft Marginalisierten exekutieren den Neoliberalismus auf ihre Weise.

Katastrophenangst und -faszination begünstigen derart weltweit fundamentalistische Heilsbewegungen, die, wie im Mittelalter, gegen das Elend aufbegehren und einen Ausweg aus der Krise versprechen. Das verbindet die Heilsfront des Islam mit dem neuen Fundamentalismus des Vatikan und den vielen von Gurus geführten Sekten und Erlösungsbewegungen.

In diesem Zusammenhang erscheint der Neoliberalismus als eine weitere Variante im Verein der neuen Heilslehren, die durch einen gemeinsamen, antiaufklärerischen Grundkonsens verbunden sind. Anstatt die Gesellschaft über sich selbst und ihre Ziele aufzuklären und ihre Perspektiven zu reflektieren, wird von einer dunklen, mystischen Kraft das Heil der Welt erwartet: die unbekannten, sich selbst regulierenden Kräfte des Marktes. Die Rückkehr zu zeitlosen Mythen und die Tendenz zur Mystifizierung der Welt scheint ein wesentliches Charakteristikum postmoderner Heilslehren zu sein. Horst Kurnitzky

Autor und Essayist in Berlin; zuletzt erschien: „Der heilige Markt“ (1994)