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Eine Freundschaft ist kein Ersatz für Politik

Die deutschen Interessen in Rußland und der Krieg in Tschetschenien / Der Westen erkennt Rußland als Ordnungsmacht im Raum der früheren Sowjetunion an / Ein Drahtseilakt zwischen Stabilität und Demokratie  ■ Von Christoph Mick

Die deutsche Politik ist an stabilen Verhältnissen in Rußland interessiert. Hier herrscht Einigkeit über alle Parteigrenzen hinweg. Daran hat auch der Krieg in Tschetschenien nichts geändert. Die Bundesregierung wird deshalb alles unterlassen, was Jelzins Autorität untergraben könnte. Deutschland ist wegen seiner geographischen Nähe direkt von Erschütterungen betroffen, die von Rußland ausgehen. Manche Katastrophen – das hat Tschernobyl gezeigt – lassen sich mit keiner noch so gewandten Politik eindämmen. Ein politischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch Rußlands würde, so fürchtet die Regierung in Bonn, Tausende und Abertausende Flüchtlinge nach Deutschland führen. Zudem ist Deutschland Rußlands größter Kreditgeber und wichtigster Handelspartner. Der heute noch wenig attraktive russische Markt könnte künftig zu einem bedeutenden Faktor werden. Deutschland hat deshalb ein essentielles Interesse am Fortgang der Wirtschaftsreformen.

Manch einer wird der Sowjetunion der Breshnew-Zeit nachtrauern, als die Sowjetmacht gefestigt, die Gesellschaft monolithisch und die Außenpolitik unbeweglich und damit berechenbar erschien. Veränderungen im Verhältnis der damals noch kleineren Bundesrepublik zur Sowjetunion gingen nur schrittweise vor sich. Meilenstein des neuen Verhältnisses und Ausgangspunkt für die erfolgreiche Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt war der Abschluß des Moskauer Vertrages vom 12. August 1970. Selbst die sowjetische Aufrüstung, der Einmarsch in Afghanistan und die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik bedeuteten nicht das Ende der Entspannungspolitik. Auch die meisten Unionspolitiker sahen ein, daß die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition im Interesse der Bundesrepublik lag. Bundeskanzler Helmut Kohl führte die Politik seiner Vorgänger deshalb ungebrochen fort. Sichtbares Zeichen des neuen Ost- West-Verhältnisses war die Schaffung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die eine unvorhergesehene Dynamik entwickelte und wesentlich zum Abbau der Systemkonkurrenz beitrug.

Der Machtantritt von Michail Gorbatschow im Jahre 1985 wurde von der Bundesregierung zunächst mit Skepsis betrachtet. Während die deutsche Öffentlichkeit die Verdrängung der Gerontokraten durch den gewandten Gorbatschow freudig begrüßte, folgte Bundeskanzler Kohl eher US-Präsident Ronald Reagan, der in der Sowjetunion das „Reich des Bösen“ sah. Verstört durch die positive Resonanz, auf die Gorbatschows außenpolitischer Stilwandel in Deutschland stieß, verstieg sich Kohl zu dem ehrabschneidenden Gorbatschow–Goebbels-Vergleich. Doch die anfänglich kühlen Beziehungen zwischen beiden Politikern wurden von stürmischen Veränderungen im Ost-West-Verhältnis begleitet.

Mit dem Fall der Mauer begann 1989 eine neue Ära der deutsch- sowjetischen Beziehungen. Mit dem Zusammenhalten ihres Vielvölkerreiches vollauf beschäftigt, legte die sowjetische Führung der Wiedervereinigung in den „Zwei- plus-vier-Verhandlungen“ keine Steine in den Weg. Im November 1990 wurde schließlich ein deutsch- sowjetischer Vertrag über gute Nachbarschaft und wirtschaftliche Zusammenarbeit abgeschlossen.

Von Gorbatschow zu Jelzin

Diese Flitterwochen der deutsch- sowjetischen Beziehungen endeten erst mit dem Zerfall der Sowjetunion. Bis zuletzt hatte die deutsche Politik an Gorbatschow festgehalten. Es gelang ihr jedoch überraschend schnell, sich an den neuen Partner Rußland zu gewöhnen. An die Stelle der im Nordkaukasus und in Oggersheim besiegelten Männerfreundschaft Kohl– Gorbatschow trat nun die Freundschaft Kohl–Jelzin.

Deutschland hat zwar seit der Wiedervereinigung ein besonderes Verhältnis zu Rußland, doch dabei handelt es sich nicht um eine Neuauflage der antiwestlichen deutsch-sowjetischen Sonderbeziehungen der 20er Jahre. Dazu ist Deutschland in jeder Hinsicht zu sehr mit dem Westen verflochten.

Solange die Sowjetunion noch existierte, gab es nur bedingt eine „russische“ Außenpolitik. Der neu gewählte Präsident der Unionsrepublik Rußland, Boris Jelzin, arbeitete zusammen mit dem russischen Obersten Sowjet an einer Verlagerung der Macht von Unionsebene auf die Ebene der RSFSR. Er erkannte die Souveränität der baltischen Republiken an und beteiligte sich an der Aushöhlung des sowjetischen Zentrums. So gab es im Dezember 1991 in der russischen Führung keine klaren Vorstellungen von den außenpolitischen Interessen Rußlands. Eine Phase relativer Orientierungslosigkeit war die Folge, die von einer engen Anlehnung an den Westen begleitet war. Nachdem in den Föderationsverträgen vom März 1992 der Zerfall Rußlands vorerst gestoppt war, wuchs die russische Regierung jedoch bald in die Rolle des früheren sowjetischen Unionszentrums hinein. Rußland ist machtpolitisch stärker einzuschätzen als die in sich zerrissene Sowjetunion kurz vor ihrem Zerfall. Zwar verzichtet Rußland auf Omnipräsenz, wie sie die weltweit ambitionierte Sowjetunion gezeigt hatte, doch inzwischen behandelt die russische Führung die früheren Unionsrepubliken als unmittelbaren Einflußbereich, in dem sie keine machtpolitische Konkurrenz zu dulden gewillt ist. Deutschland und der Westen insgesamt erkennen Rußland als Ordnungsmacht im Raum der früheren Sowjetunion an.

Dennoch hat der Krieg gegen Tschetschenien für die deutsche Rußlandpolitik unmittelbare Konsequenzen. Innenpolitisch instabile Staaten sind auch in ihrer Außenpolitik nur schwer kalkulierbar. Das Fortdauern des Tschetschenienkrieges stürzt die Bundesregierung von einer Verlegenheit in die andere. Ursprünglich wollte sie den Krieg aussitzen. Der Hinweis, es handele sich um eine innere Angelegenheit Rußlands, wurde gebetsmühlenartig wiederholt. Die Dauer des Krieges und die bekanntgewordenen Menschenrechtsverletzungen der russischen Regierungstruppen haben der deutschen Außenpolitik aber einen Strich durch die Rechnung gemacht. Kohl will seinen Freund Boris in der Not nicht im Stich lassen und Kritik nur im persönlichen (Telefon-)Gespräch mit Jelzin äußern. Man fühlt sich an vergangene Zeiten erinnert, als der Deutsche Kaiser Wilhelm II seinen russischen Vetter Zar Nikolaus II mit „lieber Niki“ anschrieb und seine Freundschaft beteuerte. Wie die weitere Geschichte gezeigt hat, konnten weder Blutsbande noch Monarchensolidarität verhindern, daß sich Russen und Deutsche bald mit der Waffe in der Hand gegenüberstanden.

Das Blut fließt nur auf russischem Boden

Diese Gefahr droht heute glücklicherweise nicht, doch sollte man nicht vergessen, daß die Freundschaft „großer Männer“ kein Kriterium für die Formulierung deutscher Außenpolitik sein kann. Hinter den Worten des Bundeskanzlers liegen handfeste politische Motive verborgen, die einem spezifischen Verständnis von deutschen Staatsinteressen entsprechen. Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten werden auf eine Art kritisiert, die den wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen nicht widersprechen.

Die Bundesregierung will wegen Tschetschenien keinen Streit mit der Regierung des größten europäischen Staates vom Zaun brechen. Die jetzige russische Regierung ist zur Zusammenarbeit mit dem Westen bereit, und es besteht somit von dieser Seite kein Grund, ihre Autorität durch energische Kritik in Frage zu stellen. Solange das Blut nur auf russischem Boden fließt, werden weder die Vereinigten Staaten noch die Mitglieder der Europäischen Union ihre Rußlandpolitik grundsätzlich revidieren. Ab einer gewissen Größe kann sich ein Staat in seinem Innern vieles erlauben, ohne dafür von der internationalen Gemeinschaft empfindlich bestraft zu werden.

Die Lage ist für Deutschland heute diffiziler als vor dem Zerfall der Sowjetunion. Gorbatschow wurde unterstützt, weil er gleichzeitig für den Erhalt der Union und die Weiterführung der Reformen stand. Man fürchtete, der Zerfall der Sowjetunion werde Kräfte freisetzen, die unkontrollierbar werden könnten. Damals bestand mit Jelzin aber eine konstruktive Alternative zu Gorbatschow. Jelzin und seine damaligen Berater galten gar als reformorientierter und demokratischer als Gorbatschow. Heute hält man nach einer solchen Alternative in Rußland vergebens Ausschau.

Bisher war die deutsche Außenpolitik ebenso wie die US-amerikanische und die anderer europäischer Staaten auf die jeweilige Führungspersönlichkeit fixiert. Dies hat seinen Grund zum einen in einem personalisierten Politikverständnis, zum anderen in der Schwäche gesellschaftlicher und politischer Strukturen in Rußland. Trotzdem muß nicht nur die deutsche Politik Abstand davon nehmen, stets nur auf die „Führer“ zu setzen.

Jelzin verhält sich im Interesse seiner Machtbehauptung opportunistisch und hat in der Tschetschenienpolitik wie in der Außenpolitik zum Teil Positionen übernommen, die auch vom nationalistischen Lager geteilt werden. Er betreibt russische Machtpolitik, ohne bisher aber seine europäisch-atlantische Orientierung aufzugeben. Im Vergleich zu Schirinowski bleibt er aber immer noch die bessere Alternative.

Kein Drängen auf eine Verhandlungslösung

Kürzlich haben Außenminister Klaus Kinkel und Verteidigungsminister Volker Rühe härtere Töne gegenüber der Kreml-Führung angeschlagen. Dies war jedoch lediglich eine Reaktion auf die massive Kritik an der Politik der Bundesregierung durch große Teile der deutschen Presse. Um nicht innenpolitisch noch stärker unter Druck zu geraten, wird jetzt die russische Tschetschenienpolitik schärfer kritisiert, ohne daß die Kritik aber mit konkreten Sanktionsdrohungen verbunden ist. Letztlich interessiert man sich in Europa oder den USA herzlich wenig für das Schicksal der Tschetschenen. Geht der Kampf als Guerillakrieg weiter, wird das Interesse im Westen bald erlahmen und der öffentliche Druck auf die Regierungen nachlassen.

Würden Sanktionsdrohungen und eine harte Sprache seitens Deutschlands und der Europäischen Union der demokratischen Opposition in Rußland helfen und dem Blutvergießen in Tschetschenien ein Ende bereiten? Oder würde Jelzin alle Hemmungen verlieren, seine europäisch-atlantische Orientierung endgültig aufgeben und sich noch enger mit der nationalistischen Opposition zusammentun?

Diese Fragen sind schwer zu beantworten. Eines ist jedoch sicher. Letztlich kann der Tschetschenienkonflikt nur in Rußland selbst gelöst werden. Vor Beginn des Sturms auf Grosny hätte eine Einmischung seitens Deutschlands und der EU not getan. Damals hätte das energische Drängen auf eine Verhandlungslösung noch wirkungsvoll sein können. Falsche Rücksicht auf russische Empfindlichkeiten und mangelnde Kenntnis der regionalen Gegebenheiten (nicht anders als in der russischen Regierung) haben eine auf Prävention angelegte Politik verhindert. Inzwischen ist soviel Blut geflossen, daß die Rückkehr zu einer friedlichen Lösung kaum noch möglich scheint.

Noch setzt sich die Bundesregierung an vorderster Front dafür ein, Rußland an der Neuordnung Europas zu beteiligen und in die Arbeit der europäischen Institutionen einzubinden. Damit kommt die Bundesregierung den russischen Wünschen entgegen. Gerade das russische Streben nach Europa und ihre Kooperationsbedürfnisse können aber auch dazu benutzt werden, Einfluß auf die russische Politik auszuüben. Zu Recht wurde die Aufnahme Rußlands in den Europarat wegen der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ausgesetzt. In der OSZE muß die russische Regierung permanent an die eingegangenen Verpflichtungen erinnert werden, die sie jetzt in Tschetschenien eklatant verletzt. Auch in den anstehenden Verhandlungen der EU mit Rußland über Kooperationsverträge und Wirtschaftsabkommen darf der Hinweis auf Tschetschenien nicht fehlen.

Wirtschaftliche Sanktionen würden vermutlich der nationalistischen Opposition in die Hand spielen, doch muß der russischen Führung deutlich vor Augen geführt werden, daß ein Bürgerkrieg und Rechtsverletzungen seitens der Regierung kein geeignetes Klima für die dringend benötigten westlichen Privatinvestitionen darstellen. Der Schaden kann nur durch eine sofortige Rückkehr zu rationalen, zivilisierten Formen der Konfliktregelung begrenzt werden.

Soll Jelzin weiter unterstützt werden, auch wenn er innenpolitisch einen antidemokratischen Kurs fährt? Wunschpartner des Westens ist ein selbstbewußtes demokratisches Rußland, das mit europäisch-atlantischer Ausrichtung bestimmend an der Neuordnung Europas mitwirkt. Möglicherweise wird sich die deutsche Rußlandpolitik jedoch entscheiden müssen, was ihr wichtiger ist: innenpolitische Stabilität in Rußland, erkauft durch ein autoritäres Präsidialregime Boris Jelzins, oder unkalkulierbare Demokratisierungsprozesse, die für längere Zeit mit erheblicher Instabilität und enormen Gefahren verbunden sind.

Die Alternative Stabilität oder Demokratie könnte sich jedoch als Scheinalternative erweisen. Die sowjetische Diktatur ist an ihrer eigenen Schwäche gescheitert, warum sollte es einer russischnationalistischen oder national- kommunistischen Diktatur besser ergehen? Keines der damaligen Probleme ist bisher gelöst worden. Die Bonner Regierung muß in ihrer Rußlandpolitik heute einen Drahtseilakt vollführen. Die Kontakte zur russischen Führung müssen aufrechterhalten werden, gleichzeitig aber sollten die oppositionellen demokratischen Politiker aufgewertet werden, indem sie von den führenden Repräsentanten der Bundesrepublik als Gesprächspartner gesucht und ernst genommen werden. Die westlichen Regierungspolitiker sollten nicht in denselben Fehler verfallen wie in den siebziger und achtziger Jahren, als sie die kommunistischen Potentaten hofierten, die damals noch schwachen Bürgerbewegungen aber ignorierten.

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