Freie Beatles für freie Bürger

■ Mark Hertsgaard, Beatles-Forscher und Buchautor, plädiert für freien Zugang zu den Schallarchiven in der Abbey Road

Dieses Jahr sind die Beatles auf allen Kanälen: Die BBC-Sessions, letzte Weihnachten in die Läden gekommen, stehen immer noch in den Hitlisten, eine interaktive Beatles-CD ist gerade erschienen, Platten mit unglaublich seltsamen Coverversionen von unglaublich seltsamen Interpreten zirkulieren, für den Sommer ist eine Videoautobiographie der Rest-Beatles geplant, und voraussichtlich zum nächsten Weihnachtsfest wird die „neue“ Beatles-Single erscheinen – mit Johns Tonbandstimme und einem von den drei Hinterbliebenen hinzugefügten Arrangement. Dazu Beatles-Bücher in allen Farben des Regenbogens. Der Amerikaner Mark Hertsgaard, 36, hatte für seins immerhin den Vorteil, als erster Journalist Bänder der Original-Aufnahmesessions zu Ohren zu bekommen.

taz: Noch ein Buch über die Beatles – haben Sie das nicht auch gedacht, als Sie den Plan zu diesem Projekt faßten?

Mark Hertsgaard: Ursprünglich sollte das alles werden, nur kein Buch. Ich arbeitete an einer Story für den New Yorker, einem Porträt von Mark Lewisohn, der als Archivar sämtliche Aufnahmen der Beatles registriert hat, 400 Stunden Musik. Als ich aber dafür zu recherchieren begann, wurde mir plötzlich klar, daß alle Bücher über die Beatles mehr oder weniger bloß das Privatleben durchkauen, großenteils auf der Basis von Gerüchten. Und dann kam noch diese unglaubliche Gelegenheit dazu, als erster Journalist unveröffentlichtes Archivmaterial hören zu können...

Wen haben Sie dafür bestochen?

War gar nicht nötig, so was. Ich fragte einfach bei Lewisohns Vorgesetzten nach, und sie sagten ja. Sie müssen bedenken, daß ich für eine Geschichte über den Beatles- Archivar Material sammelte, den Mann, der das ganze unveröffentlichte Material kannte. Da war es naheliegend, um Vergleichsmöglichkeiten nachzufragen, und so saß ich dann mit ihm für acht Tage im Studio. Ich habe etwa fünzig Stunden gehört, darunter allerdings auch Solomaterial von John Lennon und der Plastic Ono Band. Und so handelt dieses Buch als erstes von der Musik der Beatles und ihrer Entstehungsgeschichte.

Was ist mit Steve Turners „A Hard Days Write“, das vor ein paar Wochen erschienen ist? Auch ein Buch über die Geschichte hinter jedem Lied.

Na ja, das ist mehr ein Bilderbuch, ein Digest. Ich wollte das Ganze mehr angehen wie, sagen wir, eine Biographie von Picasso, mit etwas mehr Tiefgang und richtigem Erzählstrang, nicht einfach nur als Aufzählung von Titeln.

Dafür fahren Sie aber doch erstaunlich wenig echte Neuigkeiten auf, ich meine, man erfährt, daß Lennon der intellektuellere Typ war als McCartney, oder daß „Yesterday“ ursprünglich „Scrambled Eggs“ hieß – keine echte Überraschung für Fans.

Nun ja, ich muß natürlich für alle schreiben, auch für solche, die gerade erst angefangen haben, sich für die Beatles zu interessieren. Darüber hinaus wollte ich aber eine Art Mythenkorrektur betreiben. Daß – zum Beispiel nur – die Beatles sich trennen mußten, ist einfach falsch. Es gibt diese wunderbare Passage während der Session für „Get Back“, wo George Harrison sagt „Ach, eigentlich würde ich gerne mal ein Soloalbum machen“, und John antwortet „Echt? Gute Idee“, und George sagt daraufhin „Ja, auf diese Art könnten wir alle Einzelprojekte haben, ohne daß die Beatles auseinandergehen“. John hat hinterher die Version rausgebracht, bei den Beatles wäre es zwangsläufig auf Trennung hinausgelaufen, aber John war eben ein Typ, der gerne Geschichte schrieb, und die meisten haben das für bare Münze genommen. Außerdem hat noch niemand über die frühen Versionen einzelner Songs, zum Beispiel „A Day In The Life“, geschrieben, wie das Stück von Take 1 bis Take 7 klingt. Oder „We Can Work It Out“. Es würde mich wundern, wenn Sie das schon mal wo gelesen hätten.

Sie sprechen auch von „unveröffentlichten Songs“.

Nun, es gibt Sachen wie „Leave My Kitten Alone“, ein stürmischer Rocker mit Johns Gesang, nie von den Beatles veröffentlicht. Die meisten Sachen zirkulieren aber auf Bootlegs, und unveröffentlichte Meisterwerke, die noch in den Archiven schlummern, sollte man keine erwarten. Ich habe auch „Free As A Bird“ gehört, den Song von John, zu dem die anderen drei nachträglich ein Arrangement basteln wollen, und muß sagen: Er ist okay, aber nicht großartig. Trotzdem, nicht jeder hat Zugang zu irgendwelchen Raubkopien, und die frühen Versionen von „While My Guitar Gently Weeps“ oder „Strawberry Fields“ unterscheiden sich so unglaublich von den veröffentlichten, daß es manchem die Augen öffnen würde, wenn sie offiziell erscheinen würden: als offizielle Archiv-CD oder CD-Serie.

Plädieren Sie für eine Art historisch-kritische Ausgabe – mit Fußnoten und allem Drum und Dran, wie es das im Bereich der Schriftkultur schon lange gibt?

Nun, 400 Stunden würde wohl keiner kaufen, außerdem sind bei solchen Sachen natürlich bedauerlicherweise immer Privatinteressen im Spiel. Aber im Grunde müßten die Beatles für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich sein, in öffentlichen Archiven – so wie man auch als Bürger das Recht hat, zu erfahren, was auf Nixons „Watergate“-Bändern drauf ist. Eine Ausgabe mit 50 Stunden ist wünschenswert. Für den Massenmarkt wäre mit fünf Stunden Musik auf, sagen wir, drei CDs schon viel gewonnen. Die historische Bedeutung der Beatles ist so groß, daß EMI es schon allein der Geschichte schuldig ist, die Sachen in den Abbey Road Studios für Studenten, Schüler und Interessierte zugänglich zu machen – gegen ein Entgelt für das Personal, versteht sich. Eine tolle Idee: Die Beatles gehören uns!

Sie sind sehr darum bemüht, die Beatles auf eine Stufe mit Picasso zu stellen – als „Kunst“. Geht es aber nicht vielmehr darum, daß die Beatles den Begriff von Kunst selbst verändert haben?

Nun, habe ich doch wohl auch gezeigt. Einerseits gehören sie natürlich schon zu den größten Künstlern des Jahrhunderts, andererseits hatten sie einen ungeheuren Einfluß auf die Gesellschaft. Das ist mehr als Haarschnitte und Klamotten. John Lennon hat von „Volksliedern des elektronischen Zeitalters“ gesprochen. Wirklich populäre Musik ist heute nicht mehr Tony Bennett oder so was, nicht Schlagermusik und auch noch nicht Rap, sondern Rock 'n' Roll – und nicht nur für Teenager.

Denken Sie, diese Entwicklung läßt sich heute wirklich noch im Plot der vier Jungs aus Liverpool erzählen, wie Sie das tun – chronologisch, biographisch und ohne Berücksichtigung der ganzen Medienentwicklung?

Tatsache ist: Alles, was in der Richtung herausgekommen ist, hat bislang nicht funktioniert, ist impressionistisch oder bilderbuchartig.

In Ansätzen habe ich versucht, die Medienentwicklung zu berücksichtigen, es gibt Abschnitte über Ansätze zu Musikvideos bei den Beatles, aber im Mittelpunkt steht bei mir eben die Musik selbst. Und nicht ganz zu Unrecht, wie ich finde. Paul McCartney hat mal gesagt: „In 20 Jahren werden die Leute erstaunt feststellen, daß auch wir uns nur andere Schallplatten angehört haben.“ Das Gespräch führte

Thomas Groß

„The Beatles. Die Geschichte ihrer Musik“. Carl Hanser Verlag, 260 Seiten, 58 Mark.