Bildergruppe mit Dame

■ Das Moskauer Puschkin-Museum zeigt die bislang größte Ausstellung von Beute-Kunst aus dem Zweiten Weltkrieg

„Zweimal gerettet“, so nennt das Moskauer Puschkin-Museum seine am Montag eröffnete erste große Ausstellung von Kunstwerken, die die sowjetischen Beute- Brigaden aus dem Nachkriegsdeutschland heimführten. Von Beute spricht man in Moskau jedoch nicht, sondern von Trophäenkunst. Hier gibt es fünfzig klassische Gemälde europäischer Meister aus dem 14. bis 19. Jahrhundert von Bruyn bis Degas zu sehen, die die Museumsleitung fünfzig Jahre lang dem Licht der Welt verhehlte – einige von unschätzbarem Wert. Ein Großteil der Werke war gleich nach Kriegsende in die Sowjetunion gebracht worden.

Es mag mit den bevorstehenden Siegesfeiern am 9. Mai zusammenhängen, daß man sich gerade in diesem Moment zu einem solchen Schritt entschloß. Allerdings steht die Moskauer Museumsführung auch in Konkurrenz mit der Sankt Petersburger Eremitage, wo am 30. März eine große Ausstellung der in Deutschland erbeuteten französischen Impressionisten eröffnet wird. Trotzdem wirkt es, als habe Puschkin-Direktorin Irina Antonowa in letztem Augenblick Angst vor der eigenen Courage bekommen. Klammheimlich wurde das Ereignis vorbereitet, als handele es sich bei der Leinwand um eine strategische Waffe.

Die großen internationalen Nachrichtenagenturen hatten noch einen Tag vor der großen Verkündigung keine Informationen erhalten, und ausländische Fernsehgesellschaften durften am Tatort nicht drehen. Das Resultat: die Ausstellung hat weder wissenschaftlichen Charakter gewonnen (es gibt noch immer keinen Katalog), noch wurde sie zur triumphalen Demonstration aufgearbeiteter Vergangenheit im kulturellen Gewand. Doch schon formierte sich die Besucherschlange vor dem Puschkin-Museum, und Johannes der Täufer erlebte eine nie dagewesene Publicity in der russischen Presse – nämlich auf einem Gemälde von El Greco, das fast alle führenden Zeitungen für ihre Titelseiten auswählten.

„Konfetotschki“, „wahre Bonbons“ erwarten sich die RussInnen, wenn sie geduldig für diese Vernissage anstehen. Die meisten der ausgestellten Kunstwerke stammten aus Privatsammlungen, darunter Daumiers berühmte Gemälde „Revolte“ und „Wäscherinnen auf der Treppe“ aus der Kollektion Gerstenberg-Scharf, dazu Porträts von Degas und Manet. Die Namen dieser Werke waren schon vor der Eröffnung durchgesickert, aber eine völlige Überraschung bildete Hans von Marées 1881 in München vollendetes Riesengemälde „Urteil des Paris“, hier als „Drei nackte Putten“ tituliert. Viele Werke wurden im Russischen umbenannt – was Nachforschungen erheblich behinderte. Mindestens zwei Gemälde hat das Museum selbst wiederum russischen Privatleuten abgekauft, nämlich eine „Beweinung Christi“ von Barthel Bruyn und ein „Bacchusfest“ von Corneliusz van Haarlem. Insgesamt sind die 63 hier gezeigten Kunstwerke nur die Spitze eines Eisberges, sie machen etwa ein Sechstel der aus Deutschland entwendeten Gemälde im Puschkin-Fundus aus.

Schon der Name der Ausstellung ist als Provokation zu verstehen. Die Deutschen müßten doppelt dankbar sein: erstens den sowjetischen Militärs, die diese Bilder bargen, zweitens den Restauratoren, die sie wiederherstellten, erklärte Frau Antonowa bei der Eröffnung. Deutschlands Botschafter Otto von der Gablentz protestierte: „Wir unterschreiben nicht die russische These, daß diese Werke gerettet worden sind.“ Und sein Pressesprecher Rainhold Frickhinger fügte hinzu: „Wenn die Gemälde im Museum richtig gelagert worden wären, bedürften sie heute nicht der Restauration.“ Daß die Diskussion um die Restitution dieser Kunstwerke vor Ort hohe Wellen schlägt, liegt nicht zuletzt daran, daß im Mittelpunkt des Geschehens eine Dame mit schwierigem Charakter steht. Als Ober-Drachen der guten Moskauer Gesellschaft verteidigt Frau Antonowa seit Jahr und Tag mit eherner Konsequenz das Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Unter ihrer Ägide erwies sich das Puschkin-Museum als Trojanisches Pferd. Stalin vergrub in seinen Gewölben den aus dem Berliner Pergamonmuseum entwendeten Schliemann-Schatz hermetischer als einst König Priamos in Troja. Noch 1993 gab die Direktorin vor, davon nichts gesehen und nichts gehört zu haben, verriet sich aber manchmal aufgrund ihrer Rachementalität: „Gebt uns das Bernsteinzimmer zurück – dann werden wir den Schatz des Priamos für euch schon finden“.

In der durch die Ausstellung frisch entfachten Diskussion um die Restitution zeichnen sich drei Lager ab, die man bedingt als „Moralisten“, „Sieger“ und „Neutrale“ bezeichnen kann. Als für die Deutschen unverändert peinliches Argument bringen die ersteren den Kompensationsgedanken aufs Tapet. „Was steht uns allein nur für die zerstörten Paläste in den Petersburger Vorstädten zu! Rußland braucht dafür eine Kompensation.“ Tatsächlich: 400 zerstörte Museen ließ die Wehrmacht bei ihrem Abzug aus Rußland zurück. Moralisch wirken soll auch die Unterstellung, die Privatbesitzer solcher Kunstwerke seien ohnehin Schweinehunde gewesen: SS-Leute und gewissenlose Großindustrielle; andere hätten die Deutschen selbst enteignet, Juden, wie die Budapester Familien Hatvany und Herzog, aus deren Sammlungen die erwähnten Gemälde von Goya und El Greco stammen. Oleg Schischkin von der Tageszeitung Segodnja gibt sogar zu bedenken, daß nach den Kategorien westlicher „Rechtmäßigkeit“ heute niemand anders als Adolf Hitler persönlich als Besitzer der Sammlung Königs gelten könne.

Die „Sieger“ betrachten den Krieg als eine Art Fußballmatch, bei dem die Beute-Kunstwerke den Siegespokal bilden. Es spricht für diese Haltung in ihrer reinen Form, daß sie auf Heuchelei verzichtet. Die „Sieger“-Pose wird leider oft mit „Moralismus“ verwässert und hat außerdem einen Haken: Deutschland hat nicht nur gegenüber Rußland seine bedingungslose Kapitulation unterzeichnet, sondern auch mit Rußland gemeinsam den deutsch-sowjetischen Vertrag über Freundschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 9.11.1990 und den deutsch-russischen Vertrag über kulturelle Zusammenarbeit vom 16.12. 1992. In diesen Dokumenten verspricht man sich gegenseitig die Restitution aller auffindbaren Beute-Kunstwerke. Im deutsch- sowjetischen Nachbarschaftsvertrag vom November 1990 heißt es in Art. 16: „Deutschland und die UdSSR werden sich für die Erhaltung der in ihrem Gebiet befindlichen Kulturgüter der anderen Seite einsetzen. Sie stimmen darin überein, daß verschollene oder unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze, die sich auf ihrem Territorium befinden, ... zurückgegeben werden.“ Die meisten russischen BürgerInnen vor dem Puschkin- Museum beeindruckt dies wenig. „Na gut, wenn es so einen Vertrag gibt, dann muß man ihn eben ändern“, erklärten sie einem mit anstehenden Bekannten.

Die winzige Fraktion der „Neutralen“ bemüht sich, die Dinge aus einer gewissen historisch-sozialen Distanz zu betrachten und den westlichen Standpunkt zu verstehen. Dieses Lager vertrat am Dienstag Jekaterina Degot im Börsianer-Blatt Kommersant. Wörtlich schrieb sie: „Nach der Rede von Frau Antonowa wurde klar, daß man von einer neuen Position Rußlands in der Restitutionsfrage sprechen kann – von einer Logik der Gewalt, von der Logik der De-facto-Macht über die Kunstwerke. Es ist kein Geheimnis mehr, daß wir jetzt Zeugen der Wiederherstellung einer Großmachtideologie werden. Erschreckend ist nicht, daß wir imstande waren, Trophäen zu erobern (wer wäre das nicht), sondern unsere Weigerung, dies zuzugeben – und die damit verbundene Möglichkeit aller möglichen weiteren Überraschungen“.

Während die Gesellschaft diskutiert, schweigen der Präsident und seine Würdenträger. Ein neues Gesetz der Duma soll demnächst die Rückführung von Beute-Kunstwerken endgültig blockieren. Angesichts der in diesem Jahr bevorstehenden Parlaments- und für das nächste Jahr angesetzten Präsidentenwahlen will sich kein Politiker einen Mangel an Patriotismus vorwerfen lassen. An den ihr zugefallenen Gemälden festhalten will im Zuge der Zeit auch die Eremitage, deren Ausstellung „Unbekannte Meisterwerke“ von 74 in Deutschland erbeuteten Gemälden französischer Impressionisten Ende März in Sankt Petersburg eröffnet wird. Die Taktik der Kunstfunktionäre in der nördlichen Hauptstadt unterscheidet sich allerdings wesentlich von der der Moskauer. Es gibt schon vor dem Ereignis zahlreiche Veranstaltungen für die Presse, ja sogar einige der ehemaligen Besitzer der Kunstwerke wurden eingeladen, um beratend mitzuwirken. Botschafter von der Gablentz zeigte sich erfreut über die Offenheit der Sankt Petersburger. Der Ton macht eben nicht nur die Musik, sondern fördert auch den Kunstgenuß. Noch im September dieses Jahres will das Puschkin- Museum selbst eine weitere Ausstellung von Kunst-Trophäen folgen lassen: die Graphiken berühmter französischer und deutscher Meister aus der Sammlung Königs. Im Januar und Februar 1996 soll dann Schliemanns trojanisches Gold folgen. Da sich um diesen sagenhaften Schatz schon vier Staaten streiten – außer Deutschland und Rußland auch Griechenland und die Türkei –, dürfen wir uns auf eine neue Flut von Argumenten freuen. Barbara Kerneck