Scheinhinrichtungen am Freihafen

Durchbruch im Polizeiskandal / Ein Polizeibeamter beschuldigt seine Kollegen: Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung / Gegen 80 Polizisten wird ermittelt  ■ Aus Hamburg Sven-Michael Veit

„Der Neger hat sich fast bepißt und beschissen“, lachte der Polizeibeamte, als er dem Kollegen R. auf dem Revier von der jüngsten Heldentat erzählte. Zusammen mit einem anderen Beamten hatte er einen Farbigen im Hamburger Freihafen mitten in der Nacht „ausgesetzt“. Das Opfer mußte sich nackt ausziehen und hinknien, einer der Beamten hielt ihm ein Pistole an die Schläfe, der andere gab einen scharfen Schuß ab, knapp am Kopf des Opfers vorbei. Eine Scheinhinrichtung – und nicht die einzige, die von Polizeibeamten in der Hansestadt inszeniert wurde. Mindestens zwei weitere Fälle gab es – nach Aussagen, die der Polizist R. mittlerweile vor der Staatsanwaltschaft machte.

Diese Aussagen geben dem Hamburger Polizeiskandal eine Wende. Denn R. hat richtig ausgepackt – als Kronzeuge der Anklage. Gegen 80 namentlich bekannte Polizeibeamte ermittelt seit kurzem die Hamburger Staatsanwaltschaft aufgrund seiner Angaben. Die meisten Verdächtigen sind oder waren Beamte auf der Revierwache 11 am Hauptbahnhof, wo auch R. Dienst tat. Die restlichen waren in der Drogenfahndung eingesetzt.

Die Vorwürfe: Freiheitsberaubung im Amt, Mißhandlungen und Körperverletzungen. Nach Recherchen des ARD-Magazins „Panorama“ hat die Staatsanwaltschaft in den vergangenen Wochen etwa 200 Zeugen vernommen.

30 Stunden lang wurde der Beamte R. vernommen. In dieser Zeit berichtete er, was er in den zwei Jahren, die er auf der Wache Dienst tat, erlebte. Als ihm signalisiert wurde, daß eine Mithilfe bei der Aufklärung des Polizeiskandals strafmildernd berücksichtigt würde, stellte sich R. als Kronzeuge zur Verfügung. Inzwischen, so berichtet „Panorama“, seien zehn Polizisten seinem Beispiel gefolgt. Sie hätten gestanden, bei Mißhandlungen und Gewalttaten gegen Ausländer „Mitwisser oder Mittäter“ gewesen zu sein. Gegen sie wurden Ermittlungen wegen Strafvereitelung im Amt eingeleitet. Nach Erkenntnissen der Hamburger Staatsanwaltschaft habe es auf der Wache 11 ein „Doppelleben“ gegeben: den „normalen Revieralltag“ und „eine schikanöse, menschenverachtende Behandlung meist von Schwarzen aus dem Drogenmilieu“. So berichtete Kronzeuge R. von einem Vorfall auf dem Revier, in dem ein Beamter „sechs nackte Schwarze in einer Sammelzelle mit einem Tränegas besprühte, bis die Dose leer war“. Dann habe er „fluchtartig“ die Tür zugeschlagen. In mindestens 130 Fällen wurden zudem Ausländer nach einer Vernehmung nachts völlig hilflos und meist ohne Geld in der Hamburger Umgebung ausgesetzt, zum Beispiel im Freihafen. Ein Sprecher der Hamburger Staatsanwaltschaft bestätigte gestern diese Informationen. „Wegen der laufenden Ermittlungen“ wollte er aber keine weiteren Angaben machen. Diese beziehen sich in mindestens einem Fall auch auf den Vorwurf der „Vorteilsnahme und Bestechlichkeit“. Beamte der Wache 11 sollen Drogenabhängigen schon mal Geld und auch Uhren mit dem Hinweis entwendet haben, es handele sich um „Dealergeld“. Die Hamburger Innenbehörde hat nun mitgeteilt, daß deswegen entsprechende Ermittlungen eingeleitet wurden.

Auf den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß (PUA) „Polizeiskandal“ kommt noch jede Menge Arbeit zu. Die wird ihm nun allerdings erleichtert. Am späten Mittwoch abend hat das Hamburgische Verfassungsgericht per einstweiliger Anordnung verfügt, daß dem PUA sämtliche Dienst- und Ermittlungsunterlagen von Polizeiführung und Innenbehörde vorzulegen seien. Der Hamburger Senat hatte sich monatelang „aus Gründen des Datenschutzes“ geweigert, die rund 1.800 Akten herauszurücken. In letzter Instanz entschieden nun die Verfassungsrichter, daß sie dem PUA zu übergeben seien, dieser aber nur in „nichtöffentlichen“ Sitzungen darüber beraten dürfe.