Berlin für Freiberufler

■ Am Montag liest Rene Zucker aus "Berlin ist anderswo", einem literarischen Reiseführer für Nichtseßhafte

Daß der Berliner doch irre ist, merkt man immer dann, wenn man mal eine gewisse Zeitlang anderswo war. An einem der vielen Orte, wo die Einheimischen nicht nur wohlformulierte Antworten auf wohlformulierte Fragen geben, sondern sogar irritiert, aber höflich ihren Hut ziehen, wenn man sie in der Straßenbahn einen Moment zu lange angeguckt hat.

Spätestens im Taxi von Tegel nach Kreuzberg, wenn jedes „Und wie war hier das Wetter?“ wieder mit einem schnodderigen „Wees ick doch nich!“ quittert wird, der Taxifahrer es sich allerdings genau in dem Moment, wo man sich resigniert dem Zählen der Regentropfen am linken Seitenfenster verschrieben hat, nicht nehmen läßt, eine lautstarke Haßtirade auf alle Verkehrsteilnehmer abzulassen, dann also weiß man, daß einen Berlin endlich wieder hat. Irres Berlin, schönes Berlin.

Leider bleibt es nur wenigen Menschen, Freiberuflern zum Beispiel oder anderweitig Arbeitslosen, vorbehalten, diese schönen Seiten der Hauptstadt in vollen Zügen zu genießen. Renée Zucker ist eine von ihnen. Als freie Autorin hat sie nicht nur die Muße, sondern geradezu die professionelle Verpflichtung, sich immer wieder durch das Dickicht der Stadt treiben zu lassen, stundenlang das Ozonloch am Paul-Lincke-Ufer mit einer Münsteraner Sponti- Pflanze namens Marion zu teilen, die ohne zu Zögern fortwährend Schweißtropfen aus ihrem eckigen Gesicht und Lebensweisheiten aus ihrer Erfahrungswelt „Yorckstraße“ tropfen läßt. „Nacktficker“, wiederholt Frau Zucker dann neidisch, „da muß man erst mal drauf kommen.“

Freundlicherweise ist Frau Zucker durchaus bereit, ihre Rechercheergebnisse mit all jenen zu teilen, die sie einst kalt lächelnd ihren Festanstellungen in der taz oder anderswo in Berlin überließ. Und so hat sie sich nach jedem ihrer Streifzüge durch die innerstädtische Peripherie erschöpft, aber, wohl mitfühlend, an ihren Schreibtisch in Charlottenburg gesetzt und ihre kleinen und großen Begegnungen in wunderbar langatmiger und träger Schreibart dem Computer überantwortet:

„Am Anfang wußte man gar nicht wohin vor lauter Landschaft! Geradezu zwanghaft lasen selbst bornierteste Heimatverächter jeden neuen Reisführer, der Tagesausflugstips für die Umgebung Berlins versprach; die Unsportlichen kauften sich plötzlich Fahrräder und studierten günstige Radeltour-S-Bahn-Verbindungen – eine wahre Wochenendreiseeuphorie brach aus, die bei Nichtberlinern nur auf Kopfschütteln stieß, aber schließlich hatten wir jetzt auch, was in West- und Ostdeutschland schon immer da war: Umland.“

So beginnt „Ein Ort wie ein Gebet“, eine der zwölf höchst weitschweifenden Geschichten, die Rowohlt Berlin nun zu einem sehr schönen Buch gebunden hat – wenn der Verlag auch dafür gescholten werden muß, daß man dem Ganzen den recht nichtssagenden Titel „Berlin ist anderswo“ mitgab. Nur damit das KaDeWe auch ja weiß, in welches Regal das Buch zu stellen ist. – Besonders amüsant wird die Lektüre immer da, wo Frau Zucker hemmungslos ihre Freunde und Exkollegen mit all ihren schönen Worten heranzitiert, wie Klaus Nothnagel, der im Angescht der Steinplattenbonmots auf dem Gendarmenmarkt natürlich schon immer gewußt haben will, „daß dieser Hegel ein Depp war“, oder Mathias Bröckers, der vor der Eröffnung seines Hanfhauses kichernd zu der Erkenntnis gelangt, er habe sich eigentlich immer eher vorstellen können, „Börsenzocker als Hanfhändler zu werden“. Aber Berlin wäre tatsächlich anderswo, lauerte nicht hinter fast jeder harmlosen Annekdote schließlich doch ein gerüttelt Maß tragischen Materials. So wie eben in jedem Berliner Taxifahrer doch ein potentieller Verkehrspolizist steckt. Klaudia Brunst

Renée Zucker: „Berlin ist anderswo“, Rowohlt Berlin, 140 S., 26 DM. Am 6. 2. liest die Autorin um 20.30 Uhr in der „Bar jeder Vernunft“.