: Nur Reisen ist Leben
■ Die Berliner im Spiegel der Reisebüroexperten: Sie sind reisefreudig, gut informiert, fliegen gern, verachten den Bus, sind genügsamer als die Hessen und achten nicht auf Umweltsiegel
Kaltschnäuzig, zynisch, angeberhaft und selbstironisch: so ist der Berliner. Sagt zumindest der Volksmund. Reiselustig, gut informiert, busverachtend und flugfreudig: so sind die Berliner. Sagen zumindest die Reisebüroexperten.
Sabine Martin vom Atlas-Büro am Südstern weiß noch mehr. Seit 17 Jahren beobachtet sie das hiesige Reiseverhalten. „Die Kanaren“, sagt sie, „sind bei den Berlinern nach wie vor hoch im Kurs.“ Beruhigt habe sich dagegen die wechselseitige Ost-West-Neugier. Nach dem Fall der Mauer seien viele Wessis zur Ostsee und viele Ossis zur Nordsee gefahren. Immer beliebter wird nach ihrer Erfahrung der Urlaub in der Ferne. Berliner entdecken die Dominikanische Republik, liebäugeln neuerlich mit der gesamten Karibik.
Der Trend der Hauptstadtbewohner, sagt Sabine Martin, lautet: weg von der Pauschalreise, hin zum Individualtourismus. „Die Leute sind die Massenquartiere leid.“ Was im Hinblick auf die Enge und Zwänge der Großstadt nicht wundert. Bundesweit dagegen, so der Freizeitpapst und Trendforscher Horst Opaschowski, hat die Pauschalreise an Ansehen gewonnen.
Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben Reisen ist. Das Bonmot von Jean Paul haben sich auch die Berliner zueigen gemacht. Der Flieger muß es sein. Wobei sie sich in diesem Punkt von den Westdeutschen unterscheiden. Falls Flüge ausgebucht und beispielsweise nur noch von Hannover oder Hamburg aus zu bekommen sind, drücken die Berliner verständnisvoll ein Auge zu. „Die Hessen dagegen“, sagt Sabine Martin, „sind sauer, wenn sie nicht von Frankfurt losfliegen können.“ Berliner seien „Kummer durch die Mauer-Zeiten gewöhnt“. Und ihr Kollege weiß: „Viele Berliner rennen zur ITB und sind daher ungeheuer fachkundig.“ Kiloschwere Kataloge werden jedes Jahr vom Messezentrum in die Wohnstuben gekarrt. Wenn die Reise dann vom Katalogversprechen abweicht, sind es die BerlinerInnen, die „hier und da gerne mal ein bißchen Dampf ablassen“, so der Experte.
Ostberliner Reisebüros melden die ungebrochene Treue ihrer Kunden zu Böhmen, Mähren und zum Balkan. Ungarn liege weiter im Trend, Tschechien, besonders die Hohe Tatra, werde als Skiparadies geschätzt, auch Bulgarien sei gefragt. In die GUS-Staaten fahre kaum jemand. Nachgelassen habe das Interesse an Busreisen. Nur kurz nach der Wende hätten die Ostdeutschen wie besessen im Bus gehockt.
„Kritisch sind unsere Kunden nicht“, findet Elke Münter. Sie arbeitet in Kreuzberg bei Titanic- Reisen. „Die Leute möchten die billigsten Flüge, egal mit welcher Maschine sie fliegen.“ Die Niedrigpreise gingen jedoch in der Regel mit „alten und wesentlich umweltbelastenden Fluggeräten“ einher. „Von Gütesiegeln hat in Kreuzberg noch niemand etwas mitbekommen“, so Elke Münter. In Düsseldorf, wo sie früher gearbeitet hat, hätten sich die Reisenden viel mehr für Umweltengel und grüne Koffer interessiert. Überraschend sei in der Spreemetropole nur der hohe Anteil der Bahncard- Nutzer. Doch am Rhein sei eh vieles anders. „Ibiza und Mallorca gingen dort weg wie geschnittenes Brot“, erinnert sich die 33jährige Titanic-Touristikerin. „Für die Berliner sind das nicht so Renner.“
Berliner sind typische Tagesausflügler. Fast 45 Prozent verlassen die Stadt mehr als zehnmal im Jahr für eine kurze Verschnaufpause. Rund 33 Millionen Tagesausflüge wurden 1993 ins Umland unternommen. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Institus für Tourismus der FU Berlin. Bevorzugte Ziele der Stippvisiten: Potsdam, Grünheide und der Spreewald, der jedoch vornehmlich von Westberlinern besucht wird. Rheinsberg gilt als zukünftiger Favorit. Der Bus steht als Verkehrsmittel auch hier weit hinten. Der Pkw muß es sein. Gern wird auch geradelt. Die Westdeutschen schauen sich dabei am liebsten Museen an, Ostdeutsche pflegen ihr altes Hobby: sie gehen Pilze pflücken und Beeren sammeln.
Jeder fünfte Berliner, so die Studie, gibt bei seinem Ausflug kein Geld aus. Viele Ostdeutsche nächtigen in der eigenen Datscha. Rückläufig ist der Anteil der Westberliner, die sich im Umland in fremde Bett legen. Sabine Martin wundert das nicht. „Der Westberliner gibt in seinen Urlaubs- und Freizeittagen gern Geld aus.“ Nur die Leistung müsse stimmen. Doch wer lege sich schon gern in ein „runtergekommenes KP-Gebäude, auf das nur von außen ein wenig Farbe geklatscht wurde“. In solchen Fällen hat der Volksmund recht: Da zeigt der Berliner gern seine kalte Schnauze. Tomas Niederberghaus
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen