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Grüne setzen auf Wirtschaftspolitik

Bündnis 90/Die Grünen skizzieren bei der Debatte über das Wahlprogramm Grundzüge einer anderen Ökonomie / Nur kurze Kontroversen zu höheren Strompreisen und Heroinabgabe  ■ Von Dirk Wildt

Kontroversen gab es selten. Dabei hätte es am vergangenen Wochenende auf dem Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen genug Anlaß für Streit über politische Aussagen geben können – rund 160 Landesdelegierte beschlossen die erste Hälfte eines 140 Seiten starken Programms. 97.000 Blatt Papier waren zuvor an die Delegierten verschickt worden, der Stapel diverser Änderungsanträge in der stickigen Aula der Schöneberger Schwielowseeschule war so dick wie das Programm selbst.

Aber nicht nur die bemerkenswerte Harmonie – nur kurz gab es Streit über die Abschaffung des „Grünen Pfeils“ und die Strompreiserhöhung – hatte am Freitag abend und den gesamten Samstag über eine neue Qualität erreicht. Erstmals geben die Bündnisgrünen auch den Fragen der Wirtschaft Platz eins in ihrem Programm. Früher rangierten an dieser Stelle der Umweltschutz oder Demokratische Rechte.

Unter der Überschrift „Ökolopoly gegen Monopoly“ setzen die Grünen auf Kleinbetriebe und den Mittelstand. Zentrale Aussage: „Die Massenarbeitslosigkeit ist nicht mit Wachstumspolitik zu beheben.“ Schließlich sei in den letzten zehn Jahren die Beschäftigung um 11 Prozent zurückgegangen, obwohl die Wirtschaftskraft um 31 Prozent gewachsen sei.

Der Großen Koalition wird vorgeworfen, daß sie mit Milliarden- Subventionen Großkonzerne und Dienstleistungzentren in die Stadt locke und dadurch Gewerbemieten und Grundstückspreise verteuert habe. Traditionelle Klein- und mittlere Industriebetriebe würden verdrängt, obwohl diese schneller auf den strukturellen Wandel reagieren könnten.

Zuletzt hatte die Partei – damals noch die Alternative Liste (AL) – 1985 ein ähnlich umfangreiches Programm verabschiedet. Erstmals seit dem Zusammenschluß einigten sich nun Grüne und das Bündnis 90 auf derart ausführliche programmatische Aussagen.

Die Grünen wollen nun einerseits durch die Einführung eines Gewerbemietenspiegels und die Vergabe von Erbbaurechten und Verpachtung kleine und mittlere Betriebe in der Stadt halten und hineinholen. Andererseits soll durch gezielte Förderung das „ökologische Wirtschaften und Konsumieren“ bevorteilt werden. Mittel der Europäischen Union könnten schon heute dafür genutzt werden. Durch eine Erhöhung der Energiepreise und Müllgebühren sollen wiederum Aufträge und Fördermittel für Energiesparmaßnahmen und abfallarme Produktionen finanziert werden.

Um die Sozial- und Gesundheitspolitik ging es an zweiter Stelle. Auch 1995 nehmen die Grünen nicht von der Forderung Abstand, von Armut betroffene Menschen müßten eine bedarfsorientierte Grundsicherung erhalten. Für die rund 20.000 Obdachlosen sollen in jedem Bezirk Aufenthaltsräume, Unterkünfte und Duschgelegenheiten eingerichtet werden. Die Zahl der Notübernachtungsstellen soll kurzfristig auf sechs bis sieben erhöht werden.

Der kriminelle Drogenhandel soll „polizeilich unterbunden“, Drogenkranken aber soll mehr als bisher geholfen werden. Die Abgabe von Spritzen in Apotheken und öffentliche „Drückräume“, in denen sich Junkies unter hygienischen Bedingungen und unbehelligt von der Polizei einen Schuß setzen können, dürften kein Tabu sein, heißt es im verabschiedeten Kapitel „Soziale und gesunde Lebensverhältnisse schaffen“.

Neben einer Teilnahme am Methadon-Programm müsse auch die „streng kontrollierte Einnahme von Heroin“ möglich sein. Ein Gegenantrag aus Friedrichshain wurde nicht zuletzt deshalb abgelehnt, weil Gesundheitspolitiker Bernd Köppl meinte, daß für Langzeitabhängige die Heroinabgabe die „letzte Chance“ für eine Integration in die Gesellschaft darstelle.

Im dritten Teil, „Ökologische und sozialverträgliche Gestaltung von Lebensräumen“, sind jene Aussagen zu finden, mit denen die Grünen bislang die größte Aufmerksamkeit erregt haben. Verzicht auf alle drei Tunnel unter dem Tiergarten, Fahrverbot bei Sommersmog, sofortiger Stopp des Autobahnbaus, 400 Kilometer Busspurnetz und die Wiederinbetriebnahme von 50 Güterbahnhöfen. Der Flughafen Tempelhof soll sofort, Tegel spätestens im Jahr 2000 geschlossen werden. Der Airport Schönefeld soll nicht ausgebaut werden, weil seine Kapazitäten für die Bewältigung des zu erwartenden Flugverkehrs angeblich ausreichen.

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