Doppelmoral und Vexierbilder

Im Zusammenleben der Kulturen haben auch die Westeuropäer ihre Hausaufgaben zu erledigen. Dazu gehört vor allem eine differenziertere Betrachtung des Islam. Fünf Thesen  ■ von Thomas Hartmann

Der Islam ist keine „Exotenreligion“, sondern ein fester Bestandteil der westeuropäischen Gesellschaften. Etwa 25 Millionen Muslime leben in Europa, schätzt man. Somit sind etwa sieben Prozent aller Europäer Muslime. Ungefähr drei Millionen leben in Frankreich, wo sie noch vor den Protestanten die zweitgrößte Religionsgemeinschaft bilden; knapp zwei Millionen in Deutschland, rund eineinhalb in Großbritannien.

Dieser Prozeß ist unumkehrbar. Im Gegenteil spricht alles dafür, daß das reiche Europa weiterhin Migranten aus den islamischen Ländern südlich und östlich des Mittelmeeres anziehen wird. Wir Westeuropäer müssen uns darauf einstellen, in einer multireligiösen Gemeinschaft zu leben.

Ferner fordert die immer dichtere Vernetzung der Welt auch auf internationaler Ebene ein neues Konzept für das Zusammenleben der Kulturen und Religionen. Unter diesem Aspekt ist die Auseinandersetzung mit dem Islam nur ein Beispiel, dem jedoch ein besonderer Stellenwert zukommt. Denn die islamische Welt grenzt unmittelbar an Europa, besser: sie ist bereits mit Europa verzahnt. Und nicht erst seit heute. Die europäische Geistesgeschichte ist ohne arabisch-islamische Philosophie, ohne Averroes und Avicenna, die eigentlich Ibn Ruschd und Ibn Sina heißen, gar nicht denkbar.

Welche Anstrengungen müssen folglich wir nichtmuslimischen Westeuropäer unternehmen, um auf die Entwicklungen in der islamischen Welt reagieren, um einen Dialog mit der islamischen Welt ernsthaft führen zu können?

Als erstes müssen wir lernen, die verschiedenen Gesichter des Islam zu unterscheiden. Ohne das Selbstverständnis der Muslime, die immer wieder die Einheit des Islam betonen, übergehen zu wollen, müssen wir als Nichtmuslime die unterschiedlichen Ausprägungen islamischen Denkens und Handelns wahrnehmen lernen, und zwar mindestens aus drei Gründen: Erstens um zu vermeiden, einer – im Zweifel von uns selbst gestrickten – Projektion „des“ Islam aufzusitzen und das Entwicklungspotential dieser äußerst lebendigen Religion zu ignorieren. Zweitens, um die innerislamischen Entwicklungen verstehen und beurteilen zu können und damit verschiedene Perspektiven innerhalb des islamischen Denkens identifizieren zu können; erst dann können wir die modernen Islamisten als eine Strömung innerhalb des Islams relativieren, die einen bestimmten Islam als politische Ideologie propagieren. Außerdem würde uns eine differenziertere Betrachtung des Islam dazu verhelfen, politische Allianzen mit Kräften oder Bewegungen innerhalb der islamischen Welt entwickeln zu können, in deren gesellschaftspolitischen Vorstellungen wir unsere (jeweilige) Position wiedererkennen.

Der Islam ist eine lebendige Religion, die sich ständig weiterentwickelt. Diese Lebendigkeit drückt sich in einem ständigen und reichen innerislamischen Diskurs aus. Plakativ gesagt, reicht das Spektrum von dem Bemühen, den Islam zu modernisieren, bis zu Positionen von radikalen Islamisten, die Moderne zu islamisieren. Dabei sind die Islamisten, die den Islam als politische Ideologie verstehen und Gewalt als Mittel ihrer Politik einzusetzen bereit sind, nur eine von vielen Strömungen und selbst untereinander verschieden. Die Islamisten sind nicht etwa der zugespitzte Ausdruck „des“ Islam – das ist sowieso eine unsinnge Konstruktion –, sondern eine bestimmte politische Kraft, die den Islam für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versucht.

Viele moderne Muslime sind hingegen in Europa viel zuwenig bekannt: etwa die Ägypter Said Ashmawy und Fuad Zakariya, die Marokkaner Abdallah Laroui und Mohammad Al-Jaberi, die Tunesier Scheich Enneifer und Hischam Djait oder der Algerier Mohammed Arkoun. Sie und viele andere Intellektuelle gerade in Nordafrika versuchen, die islamische Tradition neu zu lesen und dadurch Elemente islamischen Denkens zu rekonstruieren, die besser als der bloße Rückgriff der Islamisten auf vergangene Zeiten geeignet sind, eine Orientierung für die Gegenwart zu bilden.

Sie beziehen sich etwa auf den andalusisch-islamischen Philosophen Ibn Ruschd, latinisiert „Averroes“, der im 12. Jahrhundert die menschliche Vernunft gegen die Islam-Orthodoxie ins Feld führte und deshalb vom „herrschenden Islam“ seiner Zeit bekämpft und verbannt wurde – übrigens auch von den päpstlichen Meinungsmachern in Rom. Ibn Ruschd verkörpert die mißglückte Aufklärung in der islamischen Tradition.

Angesichts der realen Vielfalt sind Festschreibungen wie „Der Islam ist mit demokratischer Partizipation nicht vereinbar“ (Bassam Tibi) zu grobe Vereinfachungen, die nur der Klischeebildung dienen. Statt uns auf ein Vexierbild des einen Islam zu beziehen, sollten wir von einer praktischen Position ausgehen: auf den Austausch und die lebendige Entwicklung von Kulturen, auch der islamischen, setzen. Wir dürfen uns ruhig daran erinnern, daß Europas Denker der Aufklärung nicht etwa logisch aus dem Christentum hervorgegangen sind, sondern von der christlichen Kirche mit allen Mitteln bekämpft wurden – Kopernikus und Galilei mögen als Stichworte genügen.

Als zweiten wichtigen Punkt müssen wir Westeuropäer dem „Feindbild Islam“ in Europa entgegentreten. Eine differenzierende Wahrnehmung der verschiedenen Strömungen des Islam ist das beste Gegengift gegen griffige Klischees und damit auch der Konstruktion eines Feindbildes Islam. Dieses Feindbild ist in der europäischen Kulturgeschichte tief verwurzelt – Kreuzzüge, Reconquiesta der iberischen Halbinsel, die Türken vor Wien. Es kann für politische Zwecke leicht mobilisiert werden – so wie die Islamisten die Religion für ihre Politik mobilisieren. Ein Abbau dieses Feinbildes müßte vor allem an seinen subtilen Erscheinungsformen ansetzen. So unterstützt auch unsere Medienkultur, die Lust an der Zuspitzung und der Hang zu einfachen Erklärungen, eine Reproduktion von Klischees. So titelte kürzlich die Wochenzeitung Die Woche über einem durchaus differenzierenden Dossier: „Das Schwert des Islam: Terror, Bomben, Bürgerkrieg“. Der Redakteur wird diese Verkürzung damit entschuldigen, daß die Platzvorgabe des Layouts die Wortwahl entschieden habe: „Das Schwert der Islamisten“ war zu lang und zu schwerfällig – oder gefiel das andere Bild sprachlich einfach besser? Doch wenn wir das „Feindbild Islam“ bekämpfen wollen, müssen wir eine größere Sensibilität für die Inhalte entwickeln.

Anlaß für Rundumschläge gegen den Islam sind immer wieder terroristische Aktivitäten von Islamisten oder Drohungen wie gegen Salman Rushdie oder Taslima Nasrin. Dabei wird Erscheinungsform und Ursache verwechselt: es sollte sich herumgesprochen haben, daß der Aufschwung der Islamisten in der ökonomischen Misere vieler islamischer Länder wurzelt. Die Hoffnung auf Veränderung und der Protest formulieren sich dort – nachdem andere Ideologien bereits gescheitert sind – im Gewand eines politisch radikalisierten Islam. Wenn die wirtschaftliche und soziale Situation in Nordafrika und im Nahen Osten deutlich verbessert werden könnte – etwa wie Optimisten beim Erfolg eines Friedens zwischen Israel und der PLO hoffen –, würden die Islamisten ihren Nährboden verlieren. Das Problem des Terrorismus entspringt nicht dem Islam, sondern der wirtschaftlichen und sozialen Not der Menschen. Durch die Stigmatisierung des Islam zum Feind treiben wir viele Muslime erst in die Hände der Islamisten. Gleichzeitig ist dieses Feindbild natürlich Wasser auf die Mühlen des Ausländerhasses in Europa.

Als drittes dürfen wir den politischen Streit mit den Islamisten nicht scheuen. Die islamistischen Bewegungen müssen allein schon wegen ihrer breiten Anhängerschaft ernst genommen werden. Sie sind ein Spiegel der Hoffnungen großer Teile der Bevölkerung auf ein anderes Leben und der Frustrationen im gegenwärtigen Alltag. In der Auseinandersetzung in der islamischen Welt zwischen liberalen, islamischen Intellektuellen und den puristischen Islamisten – etwa in Algerien oder Ägypten – müssen wir Partei ergreifen, schon weil wir den Bedrohten zu Solidarität verpflichtet sind. Dies gilt auch, wenn dies eine Einmischung in innere Angelegenheiten der betreffenden Länder bedeutet.

Diese Parteilichkeit beginnt bei der eingangs geforderten differenzierten Wahrnehmung verschiedener islamischer Positionen – denn die widerspricht natürlich auch dem Selbstverständnis der Islamisten. Ihrem Selbstbild nach vertreten sie „den“ einzig richtigen, den wahren Islam. Als Außenstehender kann und muß man sich aber die Distanz leisten, wahrzunehmen, daß ganz verschiedene Positionen mit demselben Anspruch vorgetragen werden.

Die Absage an Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung und der Respekt vor Andersdenkenden können wir getrost als Antrag in einem zukünftigen Welt- Kulturen-Parlament stellen und auch Muslimen gegenüber als gesellschaftliche Wertvorstellung vertreten. Willkürliche Verhaftungen, Folter und Attentate sind für Menschen keiner Kultur akzeptabel. Wer solche Mittel dennoch einsetzt – in der islamischen Welt, in Europa oder sonstwo –, kann sich nicht auf seine kulturelle Eigenart berufen, sondern muß sich einer politischen Auseinandersetzung stellen. Und die findet gerade auch zwischen liberalen und islamistischen Muslimen statt.

Viertens müssen wir lernen, einen interkulturellen Dialog zu führen. Unser Verhältnis zum Islam und zu den Muslimen ist nur ein Beispiel für eine viel größere historische Aufgabe: zu lernen, einen ernsthaften Dialog mit Angehörigen anderer Kulturen zu führen. Die Herausforderung einer muslimischen Bevölkerung in Westeuropa kann als Chance genutzt werden: ein überlegter Dialog mit Muslimen könnte Anlaß sein für eine bewußtere Selbstreflexion und damit auch auf andere Dialoge mit Kulturen dieser Erde vorbereiten. Und dazu gehört zuerst, unsere eigenen Irrationalismen gegenüber der anderen Kultur – hier: der islamischen Kultur – zu klären, „aufzuarbeiten“.

Allerdings sind die Erfahrungen mit dem innerdeutschen Ost- West-Kulturdialog nicht gerade vielversprechend: da wird eher Arroganz und Desinteresse in großen Teilen der westdeutschen Bevölkerung deutlich, als daß eine Chance zur Selbstreflexion genutzt würde. Gerade die Beziehungen Europas zur islamischen Welt sind voller psychologischer Sedimentierungen. Mit Recht wird häufig betont, daß wir in Deutschland oder generell in Europa zuwenig über die Religion des Islam wissen. Dennoch ist es nicht die pure Wissensdimension, die einen interkulturellen Dialog erschwert, sondern es wirken auch psychologische Barrieren. Sie sind die Basis dafür, daß Bücher von Autoren wie Konzelmann und Scholl-Latour, die mit dem Gespenst der islamischen Bedrohung operieren, so gut ankommen und gelesen werden. Bassam Tibi ist auf dem besten Wege, diese Reihe fortzusetzen.

Ein zentraler Aspekt liegt darin, daß den meisten Europäern eine solche Religiosität – oder allgemeiner: eine festgeschriebene Moral –, die in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinreicht, äußerst fremd geworden ist. Wir reagieren mit unbewußter Abwehr auf die Lage, daß die Nahostregion und Nordafrika genuin religiös orientiert sind, religiöse Traditionen im Alltag lebendig sind. Die Betonung der islamischen Identität und der religiösen Sicht machen die Menschen dieser Regionen in den Augen einer säkularisierten Welt sofort fremd. Wobei diese Haltung – unhinterfragt – von einem Entwicklungsmodell gespeist wird, das sich an Europas Geistesgeschichte orientiert und das die Ablösung der Religiosität durch Wissenschaft und Säkularismus als Zivilisationssprung der Menschheitsentwicklung begreift.

Zu den Voraussetzungen für einen Dialog mit Menschen aus der islamischen Kultur gehört es, diese Arroganz abzulegen, Säkularisierung nicht als Ausdruck einer zivilisatorischen Überlegenheit zu verstehen. Eine Relativierung dieser Selbstüberschätzung wird durchaus auch im „internen Dialog“ Europas vorgetragen, etwa in der postmodernen Kritik an Technikgläubigkeit und Sinnentleerung.

Zwei weitere Voraussetzungen für einen Dialog mit dem Islam seien noch kurz erwähnt: wie ernst wir Muslime nehmen, zeigt sich auch daran, ob wir den Beitrag des Islam zur Weltkultur anerkennen und ob wir offene Ohren haben für die Kritik vieler Muslime an bestimmten europäischen Verhaltensmustern. Ich darf voraussetzen, daß den Lesern dieser Zeilen bewußt ist, daß die europäische Kultur ohne den Austausch mit der islamischen Welt undenkbar ist. In der Zeit des europäischen Mittelalters strahlte die kulturelle Blüte der islamischen Welt auf Europa aus. Die Anerkennung dieser gemeinsamen Tradition ermöglicht es den Muslimen, sich als aktive Teilnehmer einer Weltkultur zu sehen und aus den gegenwärtigen ökonomischen, politischen und militärischen Unterordnungs- Beziehungen herauszutreten.

Ein weiteres Problem wurzelt in der Doppelmoral des Westens beziehungsweise Europas bei politischen Handlungen. Ein Beispiel dafür ist die unterschiedliche Behandlung von UNO-Beschlüssen: gegen den Irak wird der Golfkrieg zu ihrer Durchsetzung geführt, in bezug auf Israel akzeptiert man ihre Nichtbeachtung.

Hier liegen die Grenzen eines ausgeglichenen Dialogs: das ökonomische und politische Herrschaftsgefälle, in das jeder Kulturdialog eingebettet ist. Gleichzeitig wird deutlich, daß die Lösung des Israel-Palästinenser-Konflikts eine zentrale Bedingung für einen herrschaftsfreien Dialog mit der islamisch-arabischen Welt darstellt. Doch das ist ein Thema für sich.

Als fünftes müssen wir Westeuropäer den internen Dialog der Muslime akzeptieren. Ein zentrales Problem im Verhältnis zur islamischen, insbesondere arabischen Welt besteht dabei in der historischen Tatsache der wirtschaftlichen und militärischen Dominanz Europas, die bei vielen Muslimen als Bedrohung ihrer Kultur und ihrer Persönlichkeit wahrgenommen wird. Oder anders gesagt: Der Dialog findet eben nicht in einem herrschaftsfreien Umfeld statt.

Dazu gehört auch, daß in vielen islamischen Gesellschaften, zumindest rund ums Mittelmeer, eine Rückbesinnung auf die eigene, islamische Kulturtradition auch bei solchen Intellektuellen weit verbreitet ist – mit steigender Tendenz –, die zu den politischen Gegnern der Islamisten gehören. Es ist für das Selbstwertgefühl aller Muslime äußerst wichtig, Ergebnisse europäischer Erfahrungen nicht einfach übergestülpt zu bekommen, sondern eine moderne Gesellschaftskonzeption mit und aus den Koordinaten der eigenen Tradition zu entwickeln. Erst wenn dies gelingt, wird die unheilvolle Konfrontation zwischen Islam und Moderne sich auflösen können.

Wir können dieses Bemühen dadurch unterstützen, daß wir die Bedeutung dieses „internen Dialogs“ anerkennen. Besser wäre es natürlich noch, davon wenigstens die Grundzüge zu lernen. Im Computerbereich haben wir uns ja auch darauf eingestellt, immer wieder Neues zu lernen. Bezogen auf den internen Dialog anderer Kulturen ist dies leider nicht selbstverständlich: in Europa ist ein arrogantes Selbstverständnis weit verbreitet, das die Universalisierung der europäischen Aufklärung als Heilmittel für alle Kulturen sieht. Dies erinnert an das gerade ausgemusterte Denkmodell, nach dem alle Arbeiter ihr „objektives“ Interesse in der kommunistischen Revolution sehen müßten.

Wer ein Zusammenleben der Kulturen ernst nimmt, muß die Existenz eigenständiger gesellschaftspolitischer Konzepte akzeptieren. Erst auf dieser Basis kann eine nicht besitzergreifende, sondern ausgeglichene Auseinandersetzung um die Kriterien des Zusammenlebens stattfinden, die Suche nach dem allgemein verbindlichen Nenner. Auch wenn zum Beispiel die modernen Denker des Islam Anregungen aus europäischen Kulturen aufgreifen – etwa den Gedanken allgemeiner Menschenrechte sowie demokratischer Mechanismen in Staat und Gesellschaft –, organisieren sie diese in der islamischen Tradition in einem neuen, ihrer Kultur entsprechenden Kontext. So wie das europäische Geistesleben einst Anregungen aus dem islamischen Kulturkreis aufgenommen und verarbeitet hat. Dies ist die Entwicklung von Kulturen durch lebendigen Austausch.

Der Autor ist freier Journalist in Berlin. Er betreibt die Agentur „Nedschma Kommunikation“ für Informations- und Kulturaustausch mit Nordafrika und dem Nahen Osten.