Ethik ist etwas anderes als Gemeinsinn

Eine universalistische Ethik ist im Rationalismus der Aufklärung begründet / Dazu gehört der Kommunitarismus nur, solange er sich auf Amerika bezieht, auf deutsche Verhältnisse angewandt, kann er nur der Rechten dienen  ■ Von Sibylle Tönnies

Die oberste marxistische Maxime, daß es nur auf die gemeinsame Verfügung über die Produktionsmittel ankommt, ist zerschmolzen wie der Schnee von gestern. Aber soviel die Linken auch von Haupt- und Nebenwiderspruch gesprochen haben, hatte doch der Wegfall der Basisannahme nicht die Selbstauflösung der linken Orthodoxie zur Folge. Das bekommt man zu spüren, wenn man als „bekehrter Linker“ versucht, die wertvollen, ethisch motivierten Anteile des Sozialismus davor zu bewahren, daß sie zusammen mit der ökonomischen Grundannahme in den Orkus fallen. Eine solche Sortierung kann nicht stattfinden, ohne daß irgendein Bullenbeißer (z.B. Bollenbeck in den Blättern für deutsche und internationale Politik) heranspringt und, ohne anzugeben, an welche Dogmen man noch glauben muß und an welche nicht, blindwütig sein Haus verteidigt. Er blickt sich gar nicht nach diesem Haus um, sonst würde er sehen, daß es in Trümmern liegt. Er würde aber auch sehen, daß diese Trümmer noch viel brauchbares Material enthalten, wenn auch die Stützpfeiler nicht mehr zu retten sind; viele gute Balken und Steine können zum Bau eines neuen Hauses verwendet werden.

Das Streben nach dem Guten

Eine ähnliche Arbeit mußte im Abendland schon einmal verrichtet werden. Die im Christentum enthaltene Moral löste sich von ihren Glaubensgrundlagen ab, und man entdeckte, daß man dem Guten auch nachstreben kann, ohne an die Trinität zu glauben. Jakob Burckhardt schilderte in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ (1869), wie die Religion die Moral bei ihrem Bemühen, auf die eigenen Füße zu kommen, behinderte: „Die Religionen stützten sich in ihren späteren Zeiten gern auf die Moralen als ihre angeblichen Töchter; allein dagegen erhebt sich sowohl theoretisch die Doktrin einer vom Christentum unabhängigen, rein auf die innere Stimme begründeten Sittlichkeit als auch praktisch die Tatsache, daß im großen und ganzen die heutige Pflichtübung enorm viel mehr vom Ehrgefühl und vom eigentlichen Pflichtgefühl im engeren Sinne als von der Religion bestimmt wird.“

Ähnlich wollen heute die orthodoxen Restbestände des Sozialismus weismachen, die Idee des allgemeinen Guten sei ein Kind des Sozialismus, und mit ähnlichen Mühen muß sich das ehedem links eingebundene soziale Streben emanzipieren. Natürlich ist das ein heikles und ungeschütztes Unternehmen, aber so, wie Jakob Burckhardt für seine Zeit feststellte: „Das künstliche Neupflanzen von Christentum zum Zwecke der guten Aufführung war immer völlig vergeblich“, so werden auch die linken Versuche, die Idee des Allgemeinwohls in einer Denkwelt gebunden zu halten, deren principia maxima aufgegeben wurden, vergeblich sein. Burckhardt machte sich keine Illusionen über die Schwäche einer so wenig eingebundenen Moral und schloß seine Betrachtungen mit dem skeptischen Satz: „Wie lange freilich das Ehrgefühl noch als ,letzter Damm gegen die allgemeine Flut‘ vorhalten wird, ist fraglich.“ Inzwischen wissen wir, daß es nur noch zwei Generationen vorhielt, und diese Erfahrung hat uns 1968 ja dazu gebracht, daß wir uns in den dialektischen Materialismus, sosehr er praktisch schon damals diskreditiert war, eingefügt haben, um dem allgemeinen Guten eine solidere Stütze zu geben als das Nur-Moralische. Es ist traurig, daß wir jetzt wieder nicht Verläßlicheres in der Hand haben, aber es ist wahr.

Die Grenzen des Diskurses

Bei dem Versuch, sich nach wie vor philosophisch „links“ anzuklammern, haftet man an der Frankfurter Schule und ihren Nachfolgern (z.B. stützte Thomas Assheuer unlängst in der FR seinen Neoliberalismus auf Horkheimer und Adorno). Man unterschlägt, welche Bedeutung die materialistische Basisannahme für diese Schule hatte. Adorno sprach vom „schmählichen Begriff eines freischwebend Edlen“, dem „schmählichen Terminus Wert“, dem Gewissen als „Schandmal der unfreien Gesellschaft“, und er konnte nur deshalb so große Töne spucken, weil er meinte, daß die Abläufe uns zu einer „Entfesselung der Produktivkräfte“ tragen, bei der die Menschen alles Böse von allein fallenlassen.

Auch Habermas, der diese Illusion natürlich längst aufgegeben hat, hat sich seinen Materialismus bewahrt und ist bis heute nicht bereit, freischwebend moralische Vorgaben für Gesellschaftssysteme zu akzeptieren („eine bestimmte politische und gesellschaftliche Ordnung normativ auszuzeichnen“). Die guten Ideen des Universalismus hängen nach seiner Ansicht von volksdemokratischen Diskursen ab. Aber: Selbst wenn solche Diskurse zu dem Ergebnis kämen, Sklaverei sei das Richtige, wäre dieses Ergebnis immer noch falsch. Weil er das weiß, konzipiert Habermas die Diskurse ja so idealisiert, daß sie nicht zu diesen Ergebnissen kommen können; diese Konzeptionen sind aber von den guten Ideen, die scheinbar ihr Ergebnis sind, schon abgeleitet.

Philosophisch konsistent ist unter den antiidealistischen Theorien nur die Systemtheorie, die nicht aus der marxistischen Tradition kommt und von Verbesserungsabsichten frei ist. Sie ist es aber nur, soweit sie von ihrem zynischen Meister vorgetragen wird, dem es gelingt, ein Weltbild vorzutragen, das Gut und Böse nicht kennt, weil es keine Subjekte vorsieht, die sich daran orientieren könnten. Seine Schüler können es nicht lassen, die Ideale der Aufklärung in systemtheoretischer Sprache vorzutragen – so wie Harry Kunz in der taz vom 25. Februar das im siebzehnten Jahrhundert entwickelte Ideal der Toleranz propagierte. Er glaubt nicht an Subjekte (sie sind nach seiner Ansicht an zu viel Fernsehen gestorben): aber wer, wenn nicht diese, soll seine guten Ideen eigentlich durchführen?

Das Partikulare des Gemeinsinns

Macht man sich für eine neue Unbefangenheit gegenüber abendländischer Ethik stark, wird man leicht verwechselt mit den Kommunitaristen, die sich für „Gemeinsinn“ einsetzen. So konnte es passieren, daß Micha Brumliks kürzlich in dieser Zeitung erschienener Text gegen den kommunitaristischen „Gemeinsinn“ als Polemik gegen meine Propagierung des Ethischen ausgewiesen wurde. Brumliks Text war aber (bis auf einen kleinen Seitenhieb gegen den „Anspruch transzendenter Werte“) reinster ethischer Universalismus.

Es gilt, zwischen universalistischer Ethik und partikularem Gemeinsinn deutlich zu unterscheiden. Sonst kommt man in Probleme, für die Lothar Probsts Aufsatz über den „Sinn des Gemeinsinns“ ein Beispiel war. Was soll bei dem von ihm geforderten „Aufbau ziviler Assoziationen“, der „Stärkung privater Gemeinschaften und dem Rückgriff auf neue Beziehungsnetze“ anderes herauskommen als Bürgerinitiativen, „die gegeneinander die Verkehrsberuhigung ihrer Straße durchsetzen wollen“? Probst fordert eine am Gemeinwohl orientierte Partizipation; nimmt man aber das Wort „gemein“ als „allgemein“ ernst, so haben die Reize des auf Gemeinschaft, auf die eigenen Leute nämlich, rekurrierenden Kommunitarismus ausgedient.

Der Kommunitarismus ist keine echte Ethik. Diese ist Kennzeichen der Gesellschaft, nicht der Gemeinschaft. Man muß in der Sozialphilosophie deutlich zwischen Konzepten des „guten Lebens“ und solchen der Ethik unterscheiden. Erstere gründen auf partikularer Tradition, auf historisch- empirischen Prozessen und sind der kosmopolitischen, rational gegründeten Ethik oft geradezu feindlich. Universalistische Ethik geht nämlich nicht vom Hergekommenen aus, das immer hierarchisch ist, sondern von der rationalen Konstruktion isolierter, als gleich betrachteter Einzelwesen.

Die neoliberalen Altlinken wissen noch nicht, auf welche Fundamente die liberale Denkwelt, in der sie sich jetzt einrichten, gegründet ist. Man reitet immer noch Attacken gegen eine ethische Orientierung und verschließt die Augen vor der Tatsache, daß der liberale, westliche Universalismus selbstverständlich auf Ethik aufbaut. Die Idee der Gleichheit der Menschen, der freien Entfaltung der Persönlichkeit, der Toleranz usw. – was sonst sind diese Ideen, wenn nicht ethisch? Es ist doch nicht der praktische Nutzen, der sie auszeichnet – eine Gesellschaft kann doch auch mit Sklaverei viel erreichen. Der Gedanke aber, daß die Gesellschaftsordnung allen nützen soll und nicht nur denen, die die Hebel in der Hand haben, ist ethisch – auch wenn scheinbare Positivisten wie Popper das aus schlechter Erfahrung mit moralischer Heuchelei geleugnet haben.

Der Universalismus der Ethik

Universalistische Ethik hat deshalb nichts zu tun mit dem, was man heute unter den Stichworten Gemeinsinn, Wertegemeinschaft, zivile Gesellschaft, Partizipation usw. versteht. Diese Topoi propagieren einen verstärkten Schulterschluß, ein wärmendes Zusammenrücken, ein Besinnen auf die gemeinsame Identität usw. – es handelt sich um Konzepte, die an einen empirischen Sachverhalt: die Zusammengehörigkeit, das Zusammengewachsensein, anknüpfen. Universalismus geht in die Gegenrichtung: er knüpft an Individuation an, ist eine Erscheinung hochkomplexer Gesellschaften und Sache der Zukunft. Sein Problem ist eher, daß er zu modern als daß er altmodisch ist.

Ethisch: das Wort erregt in unserer Generation ein gewisses Schaudern. Von Adorno hat man gelernt, unter Ethik den Terror des Über-Ich zu verstehen. Man denkt dabei meistens an „christlich“ und demzufolge an Heuchelei. Dabei ist das Christentum nur eine Quelle des ethischen Universalismus, und auch nur in gewissen Zügen. Natürlich war die Idee der vor Gott unabhängig von Status und Hierarchie stehenden Einzelseele von großer Bedeutung für die Gleichheitsidee und das Gebot der Liebe gegenüber jedermann, auch dem Fremden. Aber die Weltabgewandtheit und Jenseitsbezogenheit der Christen stand der Entfaltung des Konzepts im Wege. Diesen Nachteil hatte die griechische Stoa nicht, in der, zurückgehend auf den Kyniker Diogenes, die Gleichheit der Menschen, ihre vom Status losgelöste Würde und jedermanns Recht auf Freiheit zuerst formuliert wurden. Die Aufklärung, die den Universalismus hochgebracht hat, stützte sich ganz wesentlich auf die Stoa. Wichtig war für den Universalismus auch das römische Recht, das in seinem Ius Gentium (zunächst für Ausländer) ein von der gleichen Rechtssubjektivität aller ausgehendes, von jeder Besonderheit abstrahierendes Recht schuf.

Die auf diesen Grundlagen aufbauende universalistische Ethik steht seit 1800, beginnend mit der deutschen Romantik, unter philosophischem Beschuß, und wir alle stehen unter dem Einfluß dieses Einbruchs in die abendländische Kultur. Ihr Konzept gilt als artifiziell – was es auch ist, da es nicht organisch gewachsen, sondern rationales Konstrukt ist; es gilt als metaphysisch – was ebenfalls zutrifft, denn es ist nicht empirisch gegründet, sondern gerade gegen das tatsächlich Erfahrene gerichtet.

Alle nach dem allgemeinen Guten strebenden Menschen stehen seit der Romantik philosophisch ungeschützt da, soweit sie sich nicht materialistisch getarnt haben. Der letzte nichtmaterialistische Versuch war die materiale Wertethik von Max Scheler und Nikolai Hartmann; diese hatten dem Vorwurf, daß ihre Maximen aus der Luft gegriffen sind, nicht viel entgegenzuhalten. Nun – seien sie aus der Luft gegriffen: das, was man in den letzten 200 Jahren aus den Tiefen des Empirischen herausgeholt hat, war im Ergebnis jedenfalls schlechter als das, was die Aufklärung so unbefangen von oben heruntergeholt hat: „Wenn der Gedrückte nirgend Recht kann finden, / Wenn unerträglich wird die Last, / Greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel / Und holt herunter seine ew'gen Rechte, / Die oben hangen unveräußerlich.“ Diese Devise kann man weiterführen, auch wenn sie nicht empirisch ausgewiesen, intersubjektiv transmissibel oder diskursiv entstanden ist und insofern den materialistischen Anforderungen nicht genügt.

Der Kommunitarismus ist mit dieser Devise nur vereinbar, soweit er inhaltlich mit den traditionell-amerikanischen Werten aufgefüllt ist. In der Kultur der Vereinigten Staaten decken sich das Partikulare und das Universale insofern, als universalistische Ethik und Kosmopolitismus dort die nationale Eigenheit ausmachen; für die Deutschen aber ist der philosophische Einschnitt, den die Romantik vorgenommen hat, identitätsbildend.

Deshalb kann der Kommunitarismus – das hat Micha Brumlik mittlerweile richtig erkannt – nur den Rechten dienen.