Werdet Bürger, nicht Deutsche

■ Von der Unmöglichkeit des kollektiven Gedächtnisses / Eine Aufsatzsammlung von Dan Diner im Berlin Verlag zum Nationalsozialismus und der Nationenbildung

Auf den Videodokumentationen, auf denen Überlebende des Holocaust versuchen, die „ganze Geschichte“ zu erzählen, kann man förmlich sehen, wie diese Erzählung zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Farbe verliert, hohl wird, tönern klingt. „Auschwitz“, schreibt der Historiker Dan Diner „hat eine Statistik, aber kein Narrativ.“ Deshalb, und nicht nur wegen des „heroischen Gehalts“ hänge sich die jüdische Erinnerung oft an den Aufstand im Warschauer Ghetto, eine Geschichte, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Es ist eine Geschichte die eine epische und eine teleologische Struktur hat, der Erzählung eine Richtung und der Erfahrung einen Sinn gibt, den sie der Massenvernichtung nicht abzuringen vermag.

Jede Gruppe braucht zu ihrer Konstituierung ein solches Narrativ, und keine von ihnen hat jemals einen Vogelblick: „Kollektives Gedächtnis ist immer partikular; ein universelles Gedächtnis gibt es nicht.“ Zwar hat Diner in früheren Aufsätzen immer darauf bestanden, daß die Perspektive der Opfer die epistemologisch weitestgehende ist – im Gegensatz zu den Tätern, deren Erfahrung partiell, zufällig und zweckgebunden ist –, denn sie haben die industrielle Vernichtung in ihrer komplexen Rationalität–Irrationalität durchlaufen. Hier nun trägt er dem Umstand Rechnung, daß diese Perspektive besonders von den Nachfahren der Täter schlechterdings nicht einzunehmen ist.

In acht Essays – die meisten wurden bereits anderswo publiziert – spürt Diner einigen dieser Narrative nach; nicht um sie zu decouvrieren, sondern um die in ihnen geronnene historische Erfahrung zum Sprechen zu bringen. Solchermaßen mit der Geschichtswissenschaft Ideologiekritik betreibend, hadert Diner ein weiteres Mal mit der (eigenen?) marxistischen Vergangenheit, die noch „notwendig falsches Bewußtsein“ sah, wo er jetzt eben jene reale historische Erfahrung am Werk sieht, die, aus ihrem Kontext gezerrt, höchst machtvolle Interpretationen und Gedächtniskonstruktionen hervorbringt.

In dem Aufsatz „Wiederkehr Deutschlands“ beschreibt er den seit 1989 beobachtbaren Prozeß der Restitution des Nationalen, wo es vorher nur, zumindest im Westen, ein Provisorium gab. Von jeder Stelle dieses Restitutionsprozesses wirft Diner – wie es die Akteure selbst auch tun – das Senkblei zurück in die Vergangenheit, und betrachtet, wie die Post-Wende- Erzählung sich zum Nationalsozialismus verhält. Leider läßt Diner nicht genau durchblicken, auf welches Material er sich bezieht, wo die Erzählungen sich kristallisieren, von denen die Rede ist. Jedenfalls könnte beispielsweise Margarethe von Trottas jetzt in den Kinos zu sehender Mauerfilm „Das Versprechen“ solches Material liefern. Fast sämtliche von Diners Thesen lassen sich hier verifizieren: Deutschland ist nicht nur nationaler, sondern auch protestantischer geworden (wie er überhaupt für ganz Europa Nation und Religion als Trümmerfrauen des Kalten Krieges wirken sieht). Die Erinnerung an die Stasi-Verbrechen legt sich langsam über diejenige an die Nazi-Verbrechen. Anders kann die positive Besetzung der Nation nicht vonstatten gehen. Die Mauer und die Teilung erscheinen als „Strafgericht“.

„Die um sich greifende Akzeptanz, Nationalsozialismus und Stalinismus als epochemachende Zwillingsbrüder zu verstehen, hält in zukunftsträchtiger Weise Einzug in das zeitgeistige Bewußtsein. Es scheint, als befänden sich in euphorischer Abwendung vom Vergangenen Ost und West in Übereinstimmung hinsichtlich des Charakters der jeweiligen Regime. Damit wird die Theorie vom Totalitarismus zu so etwas wie einer bewußtseinsbegründenden Bedeutung und eine alle zufriedenstellende Deutung des Jahrhunderts.“

Bei seiner Analyse ist klar, daß die Massenvernichtung an den europäischen Juden auf diese Weise im Nebel verschwindet. Dem kommt natürlich noch entgegen, daß die Bundesrepublik sich gern als die Fortsetzung der Weimarer Republik mit anderen Mitteln verstand, während die DDR den Nationalsozialismus gern als ökonomische Fortsetzung der spätbürgerlichen Gesellschaft sah – ein Blick, der eben die durch kein Kalkül gedeckte industrielle Vernichtung der Juden, also das Zentrum des Systems, tendenziell ignorieren muß. Ebendieser Blick wurde beispielsweise mit dem großen Glockenturm in der Gedenkstätte von Buchenwald regelrecht in Stein gehauen.

Zu Recht ist Dan Diners größte Befürchtung, in diesem Prozeß könne die ideelle Westbindung verlorengehen, und mit ihr die Bindung an universelle Wertesysteme. Wo das Nationale als erstes im Kampf gegen Napoleon erworben wurde, mit dem man den Universalismus gleich mit zur Hölle fahren lassen wollte, bindet es sich mehr an Ethnizität denn an Institutionen (ein schlapper Verfassungspatriotismus wird daran kaum etwas ändern).

Die Juden, die nach dem Krieg in die beiden Deutschlands (zurück)gingen, beschreibt Diner in dieser Hinsicht als die idealen Staatsbürger des Status quo vor der Wiedervereingung: Im Westen trauten sie der Republik, so lange sie ein demokratisches Provisorium war; die in die DDR gingen, waren dem sozialistischen Experiment verschrieben, auch wenn es ständig gegen sie ausschlug. Nun, nach der Wende, tritt das Paradoxon ein, daß die selbstbewußte Nation zwar einen Teil der Vergangenheit vergessen machen will, daß sie sich aber auch gleichzeitig als zentraleuropäische Schutzmacht für Juden entpuppen könnte, die im postkommunistischen Osteuropa wieder an Leib und Leben bedroht sind.

Natürlich bekommt die Linke an jeder Kreuzung des Textes eins übergezogen: Hinter der „pazifistischen“ Haltung im Golfkrieg habe nichts weiter gesteckt als ein schlecht kaschierter Nationalismus, der den Amerikanern mit fast antisemitischen Klischees ihren Utilitarismus übelnimmt. Dabei war die Verteidigung Kuwaits, die Diner zu Recht für einen völlig legitimen Kriegsgrund hält, nur die eine Seite, die Kurden waren eine andere. Und im Moment wird die Westbindung, jedenfalls was die kulturellen Narrationen angeht, ja wohl eher von anderen Seiten ideologisch ausgehöhlt.

Aber wie dem auch sei: Diner empfiehlt den Deutschen, was man angesichts der Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien nur empfehlen kann: Werdet Bürger, nicht „Deutsche“! Mariam Niroumand

Dan Diner: „Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis“. Berlin Verlag, Berlin 1995, 144 Seiten, broschiert, 20 Mark