■ Schule sollte endlich auf das Leben vorbereiten
: Bildung von Erdbürgerbewußtsein

Schule muß Kindern Bock auf ihr Leben machen. Das tut sie derzeit nicht, sondern sie läßt sie allein mit ihrer Angst. Von den 12- bis 14jährigen fürchten sich laut Umfragen 71 Prozent vor ihrer Zukunft. Sie sehen im Fernsehen täglich, was auf sie zukommt: Treibhauseffekt, Artensterben, Vergiftung der Natur, Waldsterben, Krieg um Rohstoffe, Verhungernde der Dritten Welt – und büffeln am nächsten Morgen wieder den Investiturstreit und die Motive der „Entführung aus dem Serail“.

Wie sie ihrer Zukunft lebenswerte Perspektiven bahnen können, das Bewußtsein, daß sie als Bürger dieser Erde überhaupt dazu in der Lage sind, hat ihnen niemand vermittelt. Kaiser Konstantin ermutigt einen Schüler nicht, sich in der Auseinandersetzung mit dem drohenden Ökozid der eigenen Muskeln bewußt zu werden. Chico Mendes oder Wangari Matthai könnte das hingegen sehr wohl. Auch unsere Zeit hat ihre Vorbilder. Um einem Schüler für sein Leben den Rücken zu stärken, sind Al Gores „Wege zum Gleichgewicht“, die Schriften Franz Alts und Christa Wolfs Gedanken über den Eumelos, unseren Feind in uns selbst, geeigneter als Schillers „Maria Stuart“ und die Geschichte der Karolinger. Schulen entlassen heute ihre Schüler mit stumpfem Werkzeug in den Händen. Bildung soll aber dazu befähigen, die eigene Lebenssituation zu durchschauen, angemessen auf Lebensbedingungen zu reagieren, konstruktiv einzugreifen und zum aktiven Mitgestalter der gesellschaftlich-politischen Umwelt zu werden.

Deshalb gilt es, die eigene Gegenwart und Zukunft der Schüler zum Lehrstoff zu machen: Wer hat die Kakaobohnen für den morgens getrunkenen Kakao gepflückt, welche Lebensbedingungen hat dieser Mensch, wie kann man zu einem faireren Verhältnis kommen, wie sieht der „ökologische Rucksack“ von Kakao aus? Kinder, die gewohnt sind, Kakao zu trinken, Schokolade und Ananas zu essen, müßten Erzählungen aus Afrika lesen, um mitfühlen zu lernen, wie sich die Menschen dort fühlen, wie Durst und Hunger in der Kehle, im Bauch und im Kopf schmerzen, damit sie ein Gefühl für faire Preise und Interesse an den Strukturen der Weltwirtschaft entwickeln.

Geschichte: Afrikanische, südamerikanische Geschichte wird die künftigen deutschen Kaffeekonsumenten und UNO-Soldaten nicht gelehrt. Vor allem nicht die vorkoloniale Geschichte! Aber die Geschichte Afrikas beginnt nicht erst mit der Zerstörung afrikanischer Kultur durch Europäer! Geographie: Sie darf nicht als Wissenschaft von Kontinentverschiebungen, von Flüssen und Gebirgen gelehrt werden, sondern als Wissenschaft von Menschen in anderen Ländern und Erdteilen, deren Chancen von unserem Lebens- und Konsumstil lebensbedrohlich für sie und letztlich auch für uns beschnitten werden. Geographie kann wie kaum ein anderes Fach Erdbürgerbewußtsein schaffen, das Bewußtsein, sich mit Eskimos und Sahelbewohnern, mit Bangladeschern und New Yorkern eine Welt zu teilen, die man nur gemeinsam für alle erhalten kann. Das von unserer Elterngeneration angerichtete Ökodesaster fordert nachdrücklich, solches Erdbürgerbewußtsein heute, und über die Kinder nachträglich vielleicht auch die Eltern, zu lehren.

Wie kann Schule ihren jungen Erdbürgern die Gemeinsamkeit ihrer Lebensgrundlage bewußtmachen, sie lehren, sie sich zu erhalten? Schluß mit der Begrenzung auf Bücherwissen! Notwendig sind Einübung in wache Zeitzeugenschaft, in Eigenaktivität und kritisch-konstruktive Meinungsäußerung. Lernen, wie man nicht nur sein Fahrrad pflegt, sondern auch die Erde. Die Naturwissenschaften können solche Verbundenheit und ein entsprechendes Verantwortungsbewußtsein wesentlich stimulieren, indem sie einen Bezug zu der Erde schaffen, von der wir leben: von Schülern betreute Wetterstationen, regelmäßige Gewässeranalysen durch Schüler, Bestandsaufnahmen von Pflanzen und Tieren (man kann nur vermissen, was man kennengelernt hat; und nur, wenn man selbst merkt, wie sich die eigene Umwelt verschlechtert, entfaltet sich die Empörung, Ungerechtigkeit anzuklagen) und die Ermunterung der Schüler, ihre Ergebnisse in Lokalzeitungen zu veröffentlichen, um damit auch Einfluß auszuüben.

Ein solcher Unterricht käme zweifellos auch den Bedürfnissen der Schüler entgegen. Würden sie in der Schule wirklich gefragt, müßte man möglicherweise das Schulprogramm umkrempeln: das Angebot der freiwilligen Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag zum Schulstoff machen und vieles aus dem traditionellen Stoffkanon zum Angebot der Arbeitsgemeinschaften. Und vor allem: jedes Jahr ein Preis (nämlich die Mittel zur Realisierung) für den Schüler mit der besten Idee zugunsten der Schule oder der Stadt, damit Kinder und Jugendliche in ihrer Kreativität und in ihrem Durchhaltewillen ermutigt werden, damit sie sich als gewünschte Mitgestalter erleben.

Die Welt, der eigene Alltag muß nicht notwendig so sein, wie er jetzt ist, sondern man kann Veränderungen initiieren. Alle Menschen, vor allem Kinder, wollen leidenschaftlich gern in ihrer Umgebung ihre Duftnote hinterlassen, aber statt dieses Potential zu fördern, wird es unterdrückt. Dabei schmeckt gegen die Lust auf Gestaltung die Gewöhnung an Konsum schal. Einer Jugend, der die Werbung eine 1.000er-BMW-Karosse als Sinnbild von Lebensfreude vermittelt, muß man die Chance geben, die Erotik von Selbstbestimmung und Engagement zu erleben. Ökologischer Umbau heißt nicht nur sparen und sich beschränken, sondern er verheißt auch ein Nacktbad in einem Natursee, den es dann nämlich auch künftig noch geben wird. Ökologisch sinnvolles Verhalten und lustorientiertes Leben sind keine unvereinbaren Gegensätze. Daß das Gegenteil der Fall ist, daß man nur durch Ökologie den Sinnen auch künftig schmeicheln kann, muß Schule nicht nur vermitteln, sondern erfahrbar machen.

Mit dem globalen Medienzeitalter hat unser Bildungsbegriff nicht im entferntesten Schritt gehalten. Desorientierung, Frustration und Ohnmachtsgefühle, fortgesetzte Umwelt-, also Zukunftzerstörung sind die Folge. Wissen kann der Schüler heute übers Fernsehen erhalten – nicht aber Selbstvertrauen, Hoffnung, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. Im Medienzeitalter wird die Hilfe zur Persönlichkeitsentfaltung mehr und mehr die eigentliche Aufgabe von Schule. Angesichts einer sich atomisierenden jungen Generation in den Ruf nach den guten alten Werten einzustimmen ist sinnlos, wo Sinn gefordert wäre: Lebenssinn, der berechtigte Glaube, daß sie, die Kinder, eine Zukunft haben könnten, daß es auch in ihren eigenen Händen liegt, ob sie sie haben werden. Darüber kann man ihnen keine Vorträge halten, sondern die Schule muß ein Angebot bereitstellen, das schon den Heranwachsenden einen Rucksack von Zielen und persönlichen Erfolgen im Kampf gegen ihre schwindenden Zukunftschancen ermöglicht. Stefanie Christmann