Eine Epidemie breitet sich aus

■ Würgassen ist nur der Anfang vom Ende einer Illusion. Die Meldungen über mürbe Stähle in AKW reißen nicht mehr ab

Berlin (taz) – „Ermüdungsrisse“, beruhigten die Betreiber, als vor zwei Jahren Schäden im AKW Brunsbüttel Schlagzeilen machten, „Ermüdungsrisse gibt es überall“. Unbestritten. Der „Bruch“ von Brückenpfeilern, Kurbelwellen oder Rohrleitungen verschlingt Jahr für Jahr Milliarden. Nach seriösen Schätzungen gehen in Deutschland auf diese Weise vier Prozent des Bruttosozialprodukts verloren. Daß ausgerechnet Atomkraftwerke von der Misere verschont bleiben sollten, konnte im Ernst niemand annehmen. Trotzdem blieben die Reaktortechniker zwanzig lange Jahre zuversichtlich. In den hochgesicherten Reaktoren, so wollten sie glauben machen, würden Werkstoffe vom Feinsten, gepaart mit regelmäßigen Kontrollen, das Risiko kalkulierbar halten. Materialprobleme an den eingesetzten Stählen gab es zwar immer mal wieder. Im AKW Würgassen, das nun als erstes deutsches Kraftwerk der Rißepidemie zum Opfer fällt, mußten ganze Rohrsysteme wegen verfehlter Werkstoffwahl ausgetauscht werden. Das Material drohte unter wechselnden mechanischen Belastungen, hohen Temperaturen, einem aggressivem Umgebungsmedium und nicht zuletzt dem Dauerbombardement der Neutronen aus der atomaren Kettenreaktion in die Knie zu gehen. Dennoch blieb das Problem unter Kontrolle – bis Anfang der neunziger Jahre. Seither reißen die Meldungen über immer neue „Rißbefunde“ nicht ab: Die Speziallegierungen „altern und ermüden“, wie es in der Sprache der Werkstoffwissenschaftler heißt. Hierzulande sind bisher vor allem Siedewasserreaktoren (SWR) betroffen, in denen das Kühlwasser- Dampf-Gemisch stets eine geringe Konzentration Sauerstoff enthält, der die Korrosion antreibt. Sieben der derzeit in der Bundesrepublik betriebenen 20 AKW arbeiten nach dem SWR-Konzept. Mehrere Dutzend Risse fand man zunächst in nachgeordneten Sicherheitssystemen des Atomkraftwerks Brunsbüttel, dann in schon wesentlich sicherheitsrelevanteren Teilen des AKW Würgassen. Ebenfalls betroffen: die Reaktoren im bayerischen Ohu, im schleswig-holsteinischen Krümmel und im badischen Philippsburg.

Die Betreiber wiegelten ab. Es handele sich um Einzelfälle, die noch dazu stets rechtzeitig entdeckt würden. Das sogenannte „Riß-vor-Bruch-Kriterium“, das besagt, daß ein sicherheitsrelevantes Bauteil nie spontan vollständig reißt, werde zudem eingehalten. Intern sah es anders aus. Die Fachleute waren irritiert, weil mit den „austenitschen Stählen“ eine Werkstoffgruppe zu Bruch ging, die als außergewöhnlich zäh und zuverlässig galt. Spezielle Legierungsbestandteile wie Niob und Titan sollten zudem genau den Rißmechanismus bremsen, der sich dann epidemieartig ausbreitete. Meist waren Schweißnähte betroffen, eine für sogenannte interkristalline Spannungsrißkorrosion besonders anfällige Zone. Monatelang bestanden die Hamburgischen Elektrizitätswerke (HEW) und die Bonner Reaktorsicherheitskommission (RSK) auf ihrer Einschätzung, die Risse seien bereits bei der Fertigung entstanden und während des jahrzehntelangen Betriebs nicht mehr gewachsen. Schließlich belegten genaue Untersuchungen das „betriebsbedingte Wachstum“ der Schweißnahtrisse.

Unterdessen wurden die Risse länger – und erreichten im vergangenen Herbst in Würgassen mit dem sogenannten Kernmantel das Herz der Maschine. Das zylindrische Bauteil – vier Meter im Durchmesser und rund sechs Meter hoch – umschließt den Reaktorkern, hält die Brennelemente in ihrer Position und führt das kühlende Dampf-Wasser-Gemisch durch den Kern. Die Länge der Risse addierte sich auf ungefähr acht Meter. Der Kraftwerksbetreiber PreussenElektra kündigte zähneknirschend eine Radikalkur an: den weltweit erstmaligen Austausch der Großkomponente. Gleichzeitig versicherte das Unternehmen, der Reaktor könne „auch über einen längeren Zeitraum mit dem vorhandenen Kernmantel sicher weiterbetrieben werden“. Zu beidem wird es nicht mehr kommen.

Die Altersschwäche der Edelstähle in Kernbauteilen von Atomreaktoren ist ein internationales Phänomen. In den USA kämpfen mehr als zehn Meiler der Firma Generel Electric mit ähnlichen Problemen, in Japan sind zwei Fälle bekanntgeworden, in der Schweiz ist das AKW Mühleberg betroffen. Doch nicht nur austenitische Stähle und nicht nur Siedewasserreaktoren sind befallen. Bis 1993 entwickelten sich in den Reaktordeckeln von mindestens zwölf westeuropäischen Druckwasserreaktoren (in Frankreich, Schweden, Belgien und der Schweiz) Risse an den Durchführungen für die Steuerstäbe, die die Kettenreaktion kontrollieren.

Schließlich macht auch der hessische Druckwasserreaktor Biblis von sich reden. 1994 war in Block A in einer kleineren Leitung des Druckhaltesystems ein Riß entdeckt worden. Der machte intern vor allem deshalb Furore, weil sich keine Schweißnaht in der Nähe befand. Erstmals hatte der Austenit selbst versagt, vermutlich unter dem Einfluß geringster Konzentrationen von Chlor. Letzte Woche dampfte es in Block B aus einer Leitung des Kühlwasserreinigungssystems. Die Ursache des dort entdeckten Haarrisses wird derzeit untersucht.

Markus Speidel, Metallkunde- Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, ist überzeugt, daß Risse in Zukunft zum Alltag des Reaktorbetriebs gehören. Je älter die erste und zweite Reaktorgeneration werde, desto häufiger werde man es mit derartigen Fehlern zu tun haben. Nicht nur in Bauteilen aus austenitischen Stählen. Für die Betreiber ist das nicht nur ein Sicherheitsproblem. Die Stillstände werden zunehmen, die Bilanzen gerade der längst abgeschriebenen Reaktoren belasten, die bisher als Goldesel der Atomwirtschaft galten. Gerd Rosenkranz