Und dreißig Leute guckten in Leipzig zu

■ Gehbehinderter Algerier beraubt und aus der Straßenbahn geworfen

Leipzig (taz) – Die Gerichte werden irgendwann feststellen, daß es sich bei den Tätern nicht um „organisierte Rechtsradikale“ handelt. Haß auf alles Nichtdeutsche braucht zur Legitimation kein Parteibuch; aber er findet immer wieder seine Opfer. Diesmal in Sachsen und in Greifswald, Mecklenburg-Vorpommern.

Es passierte Donnerstagabend gegen 19.15 Uhr in einer Leipziger Straßenbahn. Vor stumm staunendem Publikum fallen drei angetrunkene Männer mit abgebrochenen Flaschen über zwei Algerier her. „Ausländerschweine“, grölen sie; an der Haltestelle drücken sie ihre Opfer aus der Bahn heraus. Bevor sie fliehen, rauben die Schläger noch einen Beutel. Die Bahnfahrerin alarmiert die Polizei. Zwei Tatverdächtige können bald darauf festgenommen werden.

Polizeiangaben zufolge wurde der mutmaßliche Haupttäter, ein 27jähriger Altbundesbürger, bereits wegen anderer Delikte mit Haftbefehl gesucht. Gegen ihn wurde der Haftbefehl sofort vollstreckt. Der Haftbefehl gegen den 21jährigen Mittäter, einen gebürtigen Leipziger, wurde hingegen außer Vollzug gesetzt, wogegen die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegen wird. Von dem dritten und seiner Begleiterin fehlt bisher jede Spur.

Der gehbehinderte Französischlehrer Messaoud Semovd (32) mußte mit einer gebrochenen Hand ins Krankenhaus; auch sein Freund (24) ist verletzt. „Dreißig Leute haben wie beim Fernsehen zugeguckt“, berichtet Messaoud Semovd, „wenn auch nur einer etwas gesagt hätte, wäre es nicht so weit gekommen.“

Einem Zeugenaufruf, den laut Polizeisprecher Günter Pusch nicht die Polizei, sondern in eigener Initiative die Leipziger Volkszeitung veröffentlichte, folgte bisher lediglich ein einziger Straßenbahnfahrgast. Dieser Zeuge, Jahrgang 1923, erklärte, er habe wegen seines hohen Alters nicht eingreifen können. Die Aussagen der Opfer zum Tathergang sind durch den Zeugen, so Pusch, bestätigt worden. Oberstaatsanwalt Ulrich Frank: „Derartige unprovozierte Überfälle auf Ausländer hat es in Leipzig bereits mindestens zehn gegeben.“

Nach wie vor unbekannt sind die etwa zwanzig jugendlichen Täter, die vor zwei Wochen im Stadtzentrum von Greifswald über eine chinesische Wirtschaftsdelegation hergefallen waren. Einer der Chinesen, die im Auftrag des chinesischen Postministeriums die Greifswalder Siemens-Niederlassung besichtigt hatten, wurde mit einem Messer angegriffen und durch einen Faustschlag verletzt.

Diese Täter im Alter von 12 bis 16 Jahren konnten unerkannt entkommen. Helmut Trost, Sprecher der Staatsanwaltschaft Stralsund, erklärte, daß politische Motive nach bisherigen Erkenntnissen nicht vorliegen. Die Delegation ist inzwischen abgereist.

Detlef Krell