Nach 23 Jahren ausgestrahlt: AKW Würgassen am Ende

■ Reaktorkern ist nicht mehr zu reparieren

Düsseldorf/Berlin (taz) – Der Konsensstratege Gerhard Schröder hat sich verschätzt. Der Sozialdemokrat, der den Ausstieg aus der Atomenergie schon mal in zehn Jahren schaffen wollte, hat sich mit der Atomindustrie bereits darauf verständigt, daß deutsche Atomkraftwerke noch dreißig Jahre lang am Netz bleiben dürfen. Doch so lange halten die Reaktoren nicht. Gestern gab Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Günther Einert bekannt, daß das Atomkraftwerk von Würgassen nach nur 23 Jahren Betrieb wohl nicht mehr zu reparieren sei. Es sei „eine neue Situation entstanden“, sagte Einert, als er die Ergebnisse einer Expertenuntersuchung der Presse vorstellte. Meterlange Risse im innersten Bereich haben dem Reaktor den Rest gegeben. Sie sind im letzten Sommer entdeckt worden. Seither liegt das Atomkraftwerk still.

Die Betreiberin, die Veba-Tochter PreussenElektra, will noch aus Rücksicht auf die anderen Atomkraftwerks-Unternehmen den Schadensbericht des Landesministers prüfen. Eine Entscheidung soll im Herbst fallen. Niemand rechnet jedoch damit, daß Würgassen wieder in Betrieb geht. PreussenElektra hat bereits einen Antrag gestellt, das Personal in dem stillgelegten Atomkraftwerk reduzieren zu dürfen. Das Land wird zustimmen.

Das Düsseldorfer Wirtschaftsministerium hat ausgerechnet, daß die Reparatur der defekten Bauteile bis zu 400 Millionen Mark kosten werde. Zudem müßte der 1972 fertiggestellte Reaktor von neuem genehmigt werden. Der Klageweg wäre für alle Instanzen offen, und die Atomkraftgegner hätten neue Argumente an der Hand. Risse, wie sie im sogenannten Kernmantel von Würgassen gefunden wurden, widerlegen einige Theorien der Reaktorbauer, die bisher allen Sicherheitskonzepten zugrunde lagen. Die Schäden treten in eben jener austenitischen Stahlsorte auf, die als besonders geeignetes Material für Atomreaktoren galt. Doch in beinahe jedem deutschen AKW sind inzwischen Haarrisse in Rohren und anderen Bauteilen gefunden worden, die erst unter den Belastungen des Betriebs entstanden sein können. Das Problem ist international. Berichte über ähnliche Phänomene liegen aus Frankreich, Schweden und der Schweiz vor. Seiten 7 und 10