Der Rest war Archivverbrennung

Fünf Jahre nach dem Verschwinden ihrer Söhne und Töchter haben die mutigen „Mütter von Acari“ im Kampf mit der brasilianischen Polizei und den Behörden resigniert  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Edméia da Silva Euzebio ist ein Symbol für Widerstand und Unerschrockenheit. Sie wurde ermordet, weil sie die Mörder ihres Sohnes beim Namen nannte. Die Täter sind noch immer frei.

Die 47jährige Edméia da Silva gehörte zu den „Müttern von Acari“. Die Gruppe von Frauen aus dem Elendsviertel Acari in Rio de Janeiro ist seit fünf Jahren auf der Suche nach den Leichen ihrer Kinder. Die elf Jugendlichen waren am 26. Juli 1990 zu einem Grillfest in der Nähe von Rio aufgebrochen und sind seitdem spurlos verschwunden. „Wenn Halbstarke aus der Favela untertauchen, stört das niemanden. Alle denken, daß sie in Drogengeschäfte verwickelt sind“, erklärt Vera Lucia, eine der „Mütter von Acari“, die in der brasilianischen Gesellschaft gängigen Vorurteile. Das Verbrechen wurde niemals aufgeklärt. Auch internationale Unterstützung von amnesty international hat bis heute nichts in Bewegung gebracht. Im Februar protestierten in Wien Vertreter der Menschenrechtsorganisation vor der brasilianischen Botschaft mit einer Liste von mehr als 4.000 Unterschriften gegen die Untätigkeit der brasilianischen Behörden und der Polizei. Gerade von denen aber können die „Mütter von Acari“ nichts erwarten. Denn tatsächlich scheint die Polizei selbst für den Mord verantwortlich zu sein. „Die Polizei gibt vor, sie sei auf der Suche nach zwei straffälligen Jugendlichen der Gruppe gewesen“, erinnert sich die Mutter Marielene an den Spießrutenlauf bei den brasilianischen Behörden. Ihre Schlußfolgerungen zieht sie selbst: Zwei der Jugendlichen als Verbrecher getötet, der Rest eine „Archivverbrennung“. Mit anderen Worten: Um sich unbequemer Zeugen zu entledigen, glaubt Marielene, hätten die Polizisten gleich die ganze Gruppe umgebracht. Deshalb auch habe der Polizeibeamte auf dem Revier die Kinder nicht als vermißt melden wollen: „Er sprach von Anfang an von Mord und fragte uns nach den Feinden unserer Kinder.“ Als Edméia da Silva schließlich vier Polizisten als Mörder ihres Sohnes anzeigte, lebte sie selbst nicht mehr lange.

Es ist für die „Mütter von Acari“ ein schwacher Trost, daß auch die wohlhabenden Einwohner Rios zu Opfern willkürlicher Gewalt werden können. Vor zwei Jahren wurde die 21jährige Schauspielerin Andrea Perez erstochen – zusammen mit der Mutter, der berühmten brasilianischen Filmbuchautorin Gloria Perez, gründeten die Acari-Frauen die bis heute bestehende Gruppe „Viva Rio“. Innerhalb von drei Monaten trugen die Frauen 1,3 Millionen Unterschriften zusammen, um die brasilianische Gesetzgebung durch eine Petition zu ändern. Im Dezember vergangenen Jahres unterzeichnete Brasiliens damaliger Präsident Itamar Franco das Volksbegehren, wonach jetzt auch Ersttäter harte Strafen fürchten müssen.

Die Mörder der jungen Schauspielerin sitzen mittlerweile hinter Gittern. Die „Mütter von Acari“ hingegen sind in ihrer Verzweiflung bescheiden geworden: „Wir wollen“, sagt Vera Lucia, „mindestens unsere Kinder würdig zu Grabe tragen.“

Bleibt es bei der bloßen Anklage? Die acht „Mütter von Acari“ gehören zu den wenigen Brasilianerinnen, die die Verbrechen an ihren engsten Familienangehörigen denunzieren. Die Mehrheit der Frauen schweigt. „Jahrhunderte autoritärer Regimes haben eine Leere hinterlassen, die durch die mutigen Vorstöße einzelner Personen noch nicht ausgefüllt wird“, schreibt die Journalistin Marilda Martins. Die Redakteurin der Rio-Zeitung Jornal do Brasil bewegte mit ihrer Geschichte „Die Stille von Marly“, die das Schicksal einer 40jährigen Frau nachzeichnet, die durch Polizeigewalt sowohl ihren Bruder als auch ihren Sohn verlor, die brasilianische Öffentlichkeit. „Die Medien stürzen Minister, doch sie sind unfähig, entscheidend zur Aufklärung eines Verbrechens beizutragen“, meint die Journalistin selbstkritisch.