In Nordrhein-Westfalen kocht der neue Gesamtschul-Streit immer höher. LehrerInnen fordern eine Abkehr von diesem Schulsystem. Die Grünen zeigen sich in der Debatte als Betonfraktion, die SPD ist diskussionsbereit. Aus Bochum Walter Jakobs

Ist die Gesamtschule kindgerecht?

Nordrhein-Westfalens Grüne lieben Beton – zumindest in bildungspolitischen Debatten. Wie eine Festung verteidigt ihre Sprecherin, Brigitte Schumann, die Gesamtschule. „Eine Hetzkampagne“ sei das, was der pensionierte Gesamtschullehrer und -kritiker Ulrich Sprenger und sein „Arbeitskreis Gesamtschule“ da losgetreten hätten. Denen gehe es nur um „die Durchsetzung des bildungspolitischen Paradigmenwechsels von der Chancengleichheit für alle hin zur sozial selektiven Klientelbedienung“, schreibt die Landtagsabgeordnete und ehemalige Gymnasiallehrerin in einem vierseitigen Papier. Der SPD wirft Schumann vor, immer mehr vor der „schwarzen Bildungspolitik“ zu kuschen. Ihre These zur Schulmisere: Nicht die Gesamtschule sei das Problem, sondern daß sie seinerzeit nicht als alternativlose Schulform instituiert worden sei – das habe sich „als fatales Entwicklungshemmnis für die Gesamtschule erwiesen“. Schumann reagiert mit ihrem Papier auf eine Pressekonferenz, die der „Arbeitskreis Gesamtschule“ am Montag in Düsseldorf gegeben hat. Dreißig GesamtschullehrerInnen umfaßt dieser Arbeitskreis inzwischen, behauptet Sprenger, aber nur ein paar davon „outeten“ sich am Montag, um den Kritiker zu unterstützen. Die meisten bleiben anonym – aus Angst vor Mobbing und Zurücksetzung im Kollegium. Trotzdem würde der Arbeitskreis wachsen, meint Sprenger, er stehe bereits in Kontakt mit 300 KollegInnen.

Im Mai wird in NRW gewählt, der Wahlkampf beginnt, die Gesamtschul-Debatte kocht hoch. Schon im letzten Jahr hatte Sprenger die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Aufruhr versetzt, weil deren Organ nds seine Thesen als erste Zeitung publiziert hatte. Sprengers Kritik wog so schwer, weil sie von innen kam und mit den ideologisch überfrachteten Schlachten vergangener Jahre wenig gemein hat. Viele Gesamtschulen, so schrieb Sprenger, der selbst zwanzig Jahre an einer Gesamtschule lehrte, „sind keine Gesamtschulen mehr, sondern eher extrem teure Hauptschulen in Ganztagsform“. Gerade „jene sozial- und lernschwachen Schüler, für deren Chancengleichheit die Gesamtschule vornehmlich Sorge tragen sollte, kommen in dieser Institution am allerwenigsten zurecht“. Für heutige Fernsehkids, die stabile Beziehungen für Wohlbefinden und Lernerfolg bräuchten, sei sie durch die „Aufsplitterung der Klassenverbände“ die am wenigsten geeignete Schule.

Die Gesamtschule als Verstärker sozialer Ungleichheiten?

Die Repliken fielen wütend aus. Der stellvertretende DGB-Landesvorsitzende Walter Haas stellte den Kritiker als gescheiterten Pädagogen hin, der nur seine „höchstpersönliche Frustration“ verbreite. „Zorn und Empörung“ bekannte der SPD-Landesgeschäftsführer Ernst-Martin Walsken. Rücktrittsforderungen an den nds-Chefredakteur Fritz Junkers folgten, und in einer Leserbriefflut hagelte es Austrittsdrohungen von GEW- Mitgliedern.

Doch es gab auch andere Stimmen. „Warum so ängstlich, Kolleginnen und Kollegen? Haben wir etwas zu verbergen?“ fragte etwa Horst Hensel, Gesamtschullehrer und Autor des vielgepriesenen Buches über „Die neuen Kinder und die Erosion der alten Schule“. Hensel, nach wie vor für die Gesamtschule streitend, fordert die Gesamtschul-Protagonisten auf, endlich mit der „unguten Tradition“ der ideologischen Debatten zu brechen und „alles wieder neu und vom Standpunkt der praktischen Arbeit“ her zu betrachten.

Während Hensel die Gesamtschule durch innere Reformen retten will, sehen Ulrich Sprenger und der „Arbeitskreis Gesamtschule“ dafür keine Basis mehr. Sie sind der Auffassung, daß „das dreigliedrige Schulsystem die pädagogisch und volkswirtschaftlich effektivere Form des Schulwesens ist“. Die Gesamtschule sei „auch durch noch so viele Nachbesserungen und Reformen nicht zu retten“. In einem offenen Brief an Ministerpräsident Rau fordert Sprenger, die wissenschaftliche Erforschung des Gesamtschulalltags zu „reaktivieren“ und bis zur Vorlage der Ergebnisse Neugründungen zumindest aufzuschieben.

Während man in NRW mit einer Vielzahl von Modellen die verheerenden Folgen der von der Kultusministerkonferenz geforderten Fachleitungsdifferenzierung – psychologisch stabilisierende Klassenverbände werden dadurch weitgehend zerschlagen – systemkonform zu heilen versucht, meldet die zweitälteste hessische Gesamtschule in Kirchhain den Systembruch – den Abschied vom Förderstufenmodell.

Denn nicht nur in NRW wird um die Gesamtschule gestritten. In Kirchhain will man jetzt wieder ab dem fünften Jahrgang „schulformbezogene Klassen“, also Haupt-, Real- und Oberschulklassen einrichten. Vom Lernen in einer festen Bezugsgruppe (Klasse) mit relativ einheitlichem Leistungsniveau erhofft man sich, daß die einzelnen „so besser gefördert werden können“. Man wolle, so schrieb das Kollegium den Kritikern in NRW dieser Tage, dadurch auch der „Heimatlosigkeit“ von Kindern in ihren Schulen entgegenwirken.

Anders als die linke Mehrheit der Düsseldorfer Grünen, die sich in den ideologischen Betonburgen der Sechziger weiter sicher wähnt, ließ der monatelang abgetauchte Düsseldorfer Kultusminister Hans Schwier (SPD) jetzt die taz wissen, daß er endlich mit den Kritikern reden will. Und selbst SPD-Landesgeschäftsführer Walsken, eben noch vor Empörung schäumend, scheint inzwischen zur Besinnung gekommen zu sein. Seine letzte Meldung zum Thema überschrieb er so: „Gesamtschul-Kritik ernstnehmen“. Klar, am 14. Mai ist Landtagswahl.