Klippschulen und Puddingabitur

■ Knochen sammeln für Deutschland: Die Geschichte einer höheren Berliner Mädchenschule in den Weltkriegen

„Gott kann nicht überall sein, da schuf er die Mutter“ lautete das Aufsatzthema. Gestellt wurde es im Winter 1938/39 am Freiherr- von-Stein-Lyzeum in Berlin Wilmersdorf. In einer anderen Aufgabenstellung gerät dieser völkische Lehrauftrag zu einem faschistischen: „Warum dürfen wir Lessings ,Nathan den Weisen‘ nicht als Verherrlichung des Judentums auffassen?“

Während des Faschismus konzentrierte sich der Bildungsauftrag – neben der raumgreifenden Indoktrination der SchülerInnen – auf Zuarbeiten für die Kriegsmaschinerie zugunsten einer realen Ausbildung. Am Beispiel einer Wilmersdorfer Mädchenschule und anhand von Lehrplänen und schulischen Jahresberichten hat nun Harald Wildhagen die Auswirkungen der beiden Weltkriege auf den Schulalltag ausführlich rekapituliert. Knapp die Hälfte seines Buches beschäftigt sich in einem geschichtlichen Exkurs mit der Mädchenbildung in Preußen im allgemeinen: Vom Anbeginn bis zur Neuzeit, von der Ausbildung der jungen Damen zu kultivierten Hausfrauen, die den kirchlichen Institutionen oblag, über die sogenannten „Klippschulen“ zum häkelgeprüften „Puddingabitur“.

Daß die Geschichte der Ausbildung von Frauen ein deprimierender Ausschnitt eines patriarchalen Erziehungssystems ist, wird durch die Chronologie der unerheblichen Verbesserungen über die Jahrhunderte hinweg dabei wieder einmal besonders deutlich.

Noch interessanter liest sich die ausführliche Darstellung des Schulalltags im Wilhelminismus und im Ersten Weltkrieg. SchülerInnen und Lehrerschaft wurden zu „Mitkämpfern in der Heimarmee“ umfunktioniert, die den deutschen Soldaten sogenannte „Liebesgaben“ wie selbstgefertigte Schießhandschuhe an die Front schickten. „Auch im Lehrerinnenzimmer des IV. Lyzeums (so der ursprüngliche Name der Schule) wurde sozusagen ununterbrochen gestrickt.“

Darüber hinaus wurden zwischen den Bezirken wettbewerbsartige Kleider-, Altmetall- und Geldsammlungen durchgeführt, einige Schulen funktionierte man zu Sammelstellen oder Volksküchen um. Der ohnehin reduzierte Unterricht war auch aufgrund am Krieg teilnehmender Lehrer stark eingeschränkt, Kohlemangel und Arbeitseinsätze taten ein übriges. Dazu kam noch die exzessive Feierkultur für den Kaiser und diverse Helden: „Gedenktagspädagogik“ lautet der Fachterminus hierfür.

Die Nationalsozialisten konnten später also auf eine bereits altbewährte und ausgefeilte Praxis zurückgreifen: nämlich die Zivilbevölkerung – einschließlich Kinder und Jugendliche – für Propaganda- und Kriegszwecke einzusetzen.

Ernteeinsätze und Luftschutzübungen

Die Akribie des deutschen Faschismus, wie sie später in den Konzentrationslagern ihren extremsten Ausdruck fand, wurde hier vorexerziert. So sammelten bis 1941 Wilmersdorfer Schülerinnen für das Winterhilfswerk insgesamt 4.700 Kilogramm Knochen. Schon ab 1939 gab es zwei- bis dreiwöchige Ernteeinsätze, Luftschutzübungen und -dienste: Viel Zeit für Unterricht blieb da nicht übrig, was möglicherweise in Anbetracht des gleichgeschalteten Inhalts, der da vermittelt werden sollte, aber auch gar kein so großer Verlust war. Ab Sommer 1943 gab es in ganz Berlin dann gar keinen Schulunterricht mehr. Die Wilmersdorfer Mädchen kamen im Rahmen der Kinderlandverschickung in das als „Reichsluftschutzkeller“ bezeichnete Schlesien, ihre Flucht bei Kriegsende zurück Richtung Berlin wird aus der Perspektive der Lehrerinnen erzählt.

„Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung...“ – dieses Zitat von Friedrich Schleiermacher gibt der umfangreichen Studie den Titel. Auf diese Weise wurden einige Generationen von Frauen in Deutschland zu Sammlerinnen aller Art ausgebildet. Nachzulesen, wie Schule im Vorkrieg und im Weltkrieg aussah, ist nicht nur zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung zu empfehlen. Caroline Roeder

Harald Wildhagen: „Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung... Mädchenbildung in Preußen. Geschichte einer Höheren Mädchenschule in Berlin-Wilmersdorf“. Wolfgang Stapp Verlag, 344 Seiten, 48 DM.