Alphorn wie noch nie

Heute beginnt das 15. internationale Fest für zeitgenössische Musik der Berliner Festspiele  ■ Von Christine Hohmeyer

Was bleibt von der musikalischen Avantgarde der sechziger Jahre? Das herauszudestillieren ist eines der Hauptthemen der 15. Musik-Biennale in Berlin. Über die Zeit der Experimente, der Klangkompositionen und der Multimedia-Spektakel geben die Veranstaltungen der Biennale einen repräsentativen, aber ungewöhnlichen Überblick. Denn nicht die Hauptströmungen, sondern eher die verzweigten Seitenarme der Avantgarde bestimmen das Programm, und im Mittelpunkt der Retrospektive, gleich mit mehreren Veranstaltungen vertreten, stehen die amerikanischen Minimalisten und der deutsche Komponist Bernd Alois Zimmermann.

Kunstgattung zwischen Sprache und Musik

Von diesem wird das selten aufgeführte „Requiem für einen jungen Dichter“ am Dienstag abend gespielt, das Zimmermann 1969, ein Jahr vor seinem Freitod, fertiggestellt hat. Das Requiem, ein Multimediawerk, gibt auf sehr direkte Art Auskunft nicht nur über die sechziger Jahre. Es ist eine völlig neuartige Mischung von Elementen aus Hörspiel und Feature, Sprache, Jazz und Unterhaltungsmusik, eine neu geschaffene Kunstgattung zwischen Sprache und Musik, für die Zimmermann selbst die Bezeichnung „Lingual“ wählte.

So ist das Requiem auch eine Sammlung zeitdokumentarischer und literarischer Texte, Dubcek kommt ebenso zu Wort wie der Vietnamkrieg zur Sprache, und auch die Beatles fehlen nicht. Aus dieser Sammlung entsteht Zimmermanns Ästhetik der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die eine Vielzahl von Ebenen innerhalb eines einzigen Momentes in der Musik erlaubt. Michael Giehlen, der schon die Uraufführung dirigierte, wird das Stück am Dienstag abend wieder dirigieren – ein Zeitzeugnis der besonderen Art erwartet einen.

Stücke für Posaune und Bodypercussion

Für die neunziger Jahre hingegen ist in diesem Jahr Vinko Globokar die Hauptperson, dessen virtuose Experimente mit der Posaune oder anderen Klangkörpern ebenso sehens- wie hörenswert sind. Dabei hat er von den Klangresultaten so genaue Vorstellungen, daß es zwar notierte Musik von ihm gibt, diese aber am authentischsten und virtuosesten von ihm selbst gespielt wird – seien es nun Stücke für Posaune, für Alphorn oder Bodypercussion. Daß der Franzose Globokaraber nicht nur witzige Miniaturen, sondern auch monumentale Werke schreiben kann, wird sich schon am Samstag abend zeigen. Denn dann wird L'Armonia Drammatica uraufgeführt, ein Mammutwerk für Chor, Orchester und sieben Gesangssolisten plus Saxophon, das sechs Jahre wegen angeblicher Unaufführbarkeit auf Eis liegen mußte. Jetzt endlich wagen Chor und Orchester von Radio France den Kampf mit dem Giganten.

Neue Musik mit schwarzem Humor

Äußerst bemerkenswert ist am diesjährigen Programm auch, daß der Ernst der Neuen Musik durch Ironie und teilweise schwarzen Humor kontrapunktiert wird. Schon allein die Begleitausstellung „Klaviaturen im gebogenen Raum“, eine Klanginstallation von Erwin Stache in der Festspielgalerie, verbindet Ernstes mit Trivialem und holt dabei so manchen Säulenheiligen der Musik aufs Parkett.

Der Bogen zur Gegenwart

Auch Mauricio Kagels „Match“ oder die schwarze Messe „Der mündliche Verrat“ zielen aufs Allerheiligste, brechen die Grenzen der Kunst zynisch und respektlos auf. Von Hans-Joachim Hespos schließlich, jenem Enfant terrible der szenischen Musik, der einst „wider den trüben Geschmack“ zu Felde zog, ist ähnlich ungebührlicher Humor zu erwarten: „mini mal!“ heißt das im Podewil aufgeführte Stück, und man weiß bislang nur, daß es auch was mit Tennis zu tun haben wird.

Eröffnet wird die Biennale heute dagegen mit Klangfarbenkompositionen von Scelsi, Ligeti und Penderecki aus den sechziger Jahren, in denen der Klang des Orchesterapparates oder der einzelnen Instrumente zum wichtigsten Parameter der Musik wird – gegenüber Formen und Strukturen, die noch bis in die Fünfziger hinein die Musik prägten.

Der Bogen zur Gegenwart schließlich wird durch eine Uraufführung von Dieter Schnebels „Totentanz“ gespannt. Schnebels Sprachkompositorische Experimente führten in den Sechzigern tief in die Alchimie von Sprache und Klang. Der Totentanz, in dem diese sprachlichen Experimente bewahrt und weiterentwickelt sind, ist das Nachspiel zu einer Majakowski-Oper, die gerade erst entsteht. So ist das Eröffnungskonzert Rückblick und Ausblick zugleich.

15. Musik-Biennale Berlin, Internationales Fest für zeitgenössische Musik. Eröffnung heute abend im Konzerthaus, Großer Saal, mit dem Berliner Sinfonieorchester, mit Stücken von Krzysztof Penderecki, György Ligeti, Giacanto Scelsi, Dieter Schnebel. Bis zum 19. März.

Informationen über das weitere Programm bei den Berliner Festspielen, 254 89-0.