Großes Schweigen bei Familiendrama-Prozeß

■ Mehrere Zeugen des Blutbades bei türkischer Familie verweigern Aussage

Der Prozeß um die türkische Familientragödie, bei der im Mai vergangenen Jahres drei Menschen durch eine Splitterhandgranate und Schüsse ums Leben kamen, ist in eine schwierige Beweislage geraten. Gestern verweigerte zur Überraschung aller Prozeßbeteiligten die wichtigste Zeugin, die 17jährige Eylem Y., die Aussage. Die offenbar verängstigte junge Frau verließ unter Personenschutz den Gerichtssaal. Sie hatte den Angeklagten, ihren Onkel Orhan I., im letzten Jahr beschuldigt, sie vor etwa zehn Jahren sexuell mißbraucht zu haben. Außerdem hat sie die Entbindung der sie behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zurückgezogen. Auch eine türkische Dolmetscherin, die mit Eylem Y. nach der Tat im Krankenhaus Kontakt hatte und über Informationen zur Aufklärung der Hintergründe verfügen könnte, verweigerte aus beruflichen Gründen die Aussage.

Der durch die Zeugnisverweigerung möglicherweise nicht mehr verwertbare Vorwurf der Mißhandlung könnte der Grund für das Familiendrama in der Manteuffelstraße gewesen sein. Wegen des Verdachts des Mißbrauchs seiner Nichte war der in Duisburg lebende Onkel im Mai letzten Jahres nach Berlin gekommen. Die Anklage wirft dem 28jährigen vor, daß er beabsichtigt habe, seine vermeintlich verletzte Ehre wiederherzustellen. Als er erkannt habe, daß Eylem nicht mit ihm kommen würde, habe er die Granate gezündet, durch die Eylems Mann und Schwiegervater ums Leben kamen, und auf die Schwiegermutter seiner Nichte geschossen, die an den Folgen starb. Der Angeklagte bestreitet sowohl den Besitz und das Zünden der Handgranate als auch den Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs.

Nach Angaben von Orhan I., dem einzigen in Deutschland lebenden Familienangehörigen von Eylem Y., sei es ihr von der Familie ihres Mannes Ali verboten worden, mit ihren Eltern in der Türkei und anderen Familienangehörigen zu telefonieren. Ali Y. habe ihm selbst mit den Worten „Einer Ware, die man verkauft hat, darf man nicht mehr hinterherrennen“ untersagt, mit ihr zu sprechen.

Nach wie vor ist das Thema sexueller Mißbrauch in der türkischen Gesellschaft tabu. „Das ist absolut kein Thema“, so eine türkische Psychologin. Wenn sie in Gegenwart türkischer Frauen das Familiendrama vom letzten Jahr anspricht, „tun sie so, als ob das ganz weit weg wäre“. Nicht selten werde Mißbrauch sogar toleriert.

Werner Schiffauer, Professor für europäische Ethnologie, der in dem Prozeß als Sachverständiger gehört wird, hatte in einem Interview mit der taz wenige Tage nach der Tragödie die Frage aufgeworfen, ob der Angeklagte nicht möglicherweise zu Unrecht des sexuellen Mißbrauchs beschuldigt werde. Sollte der Vorwurf stimmen, wäre es logischer gewesen, wenn Orhan I. geflohen wäre. Das wäre zumindest das übliche Verhalten, zumal er der jüngere Bruder des Vaters von Eylem Y. und diesem von daher untergeordnet ist.

Nita Prasad vom Autonomen Mädchenhaus hat noch nie erlebt, daß türkische Mädchen den Vorwurf eines Mißbrauchs vorbringen, an dem nichts dran ist. Eine Aussage der Betroffenen vor Gericht sei „fast noch mal eine Vergewaltigung“.

Schiffbauer warnte in dem Interview jedoch davor, von einem kulturellen Automatismus auszugehen. In der Anonymität in Deutschland lebender Immigranten gäbe es keinen Zwang, Vergeltung zu üben. Hier werde die Ehrsache mehr oder weniger zu einem Moralkodex und erlaube eine ganze Bandbreite von Reaktionen. Der Prozeß wird am Montag fortgesetzt. Barbara Bollwahn