Die Katastrophe in euch

Rechtsradikalismus als vorauseilende Fiktion: Josef Haslingers medienkritischer Thriller „Opernball“  ■ Von Jörg Magenau

Aktualität ist nicht Sache der Literatur. Heißt es. Da kommt aus Österreich ein Roman, so aktuell, daß er dort (und mittlerweile beinahe auch hier) einen kleinen Skandal auslöste: Josef Haslingers „Opernball“, ein Politthriller über eine Gruppe Rechtsradikaler, die Blausäure über die Lüftungsschächte der Wiener Oper leiten und so das Ballgroßereignis in ein Massensterben verwandeln.

Haslinger, der mit seinem Essayband „Politik der Gefühle“ einst zu einer zentralen Figur der Anti-Waldheim-Bewegung wurde und heute Sprecher der Initiative gegen Fremdenhaß „SOS Mitmensch“ ist, begann bereits 1991 an „Opernball“ zu arbeiten, also noch vor den ersten Briefbombenattentaten in Wien. Er schildert nicht den Ist-Zustand des heutigen Rechtsradikalismus und der österreichischen Gesellschaft, sondern entwarf als reale Möglichkeit, was der Fall sein könnte, entfaltete die potentielle Bedrohung in einer Fiktion, die nun, wenige Wochen nach dem Bombenattentat gegen vier Sinti und Roma im Burgenland, beängstigende Aktualität gewonnen hat.

Haslinger steht in der Tradition des kritischen Realismus der siebziger Jahre. Innerhofer und Wolfgruber nennt er als Vorbilder. Mit „Opernball“ aber demonstriert er, daß Realismus im Zeitalter der Beschleunigung nicht mehr gelingt, indem er der Wirklichkeit hinterherhechelt, sondern indem er ihr – überzeichnend, zuspitzend – vorauseilt. Realismus als Erfindung des Wirklichen. Haslinger erfand eine kleine Gruppe, die er „Bewegung der Volkstreuen“ nennt: neun Männer, die sich zunächst bei viel Bier, Schieß- und Fickübungen auf einem abgelegenen Bauernhof treffen. Dort haben sie auch einen High-Tech-Raum eingerichtet mit Anschluß ans internationale Computernetz. Nach einem Brandanschlag auf ein Ausländerwohnheim, bei dem es zahlreiche Tote gibt, werden zwei Gruppenmitglieder verhaftet. Die anderen arbeiten im verborgenen als „Die Entschlossenen“ weiter, teilweise mit Wissen und unter Duldung der Polizei. Wie real diese Fiktion ist, hat die schleppende Ermittlungsarbeit der österreichischen Behörden nach den letzten Attentaten bewiesen. Der Klagenfurter Verleger Lojze Wieser beispielsweise wurde, von Briefbomben bedroht, mit einem Schulterzucken der Politiker allein gelassen.

Sehr österreichisch ist auch die religiöse Verwurzelung der Rechtsradikalengruppe. Ihr Anführer, der sich in Judas-Verehrung „Der Geringste“ nennt, schwört die Gruppe außer auf Hitlers „Mein Kampf“ auf die Bibel und das Buch Mormon ein. „Der Geringste“ ist eigentlich ein verwirrter Intellektueller, der eine verstörende Jugend im katholischen Internat hinter sich hat – wie so viele Österreicher, so auch der Autor Haslinger. Erst der fanatische Messianismus und der in zeremoniellen Ritualen hergestellte Gruppenzusammenhalt machen die „Entschlossenen“ gefährlich.

Die Katastrophe in der Oper steht gleich am Anfang des Romans. Der Fernsehjournalist Fraser, der die Live-Übertragung des Balles koordiniert, beobachtet das Massensterben auf 20 Monitoren gleichzeitig. Es ist eine Szene, die in ihrer gewalttätigen Dynamik an den Anfang der „Ästhetik des Widerstands“ erinnern könnte. Haslinger fehlt aber die Sprachmächtigkeit, die Peter Weiss auszeichnet. Bei ihm fallen die Opfer hin „wie Mehlsäcke“. „Einige schreien kurz, andere länger.“ Aus offenen Mündern rinnt Erbrochenes über weiße Abendkleider. Doch vielleicht ist die Schlichtheit der Sprache an dieser Stelle auch nur ein Indiz für den Charakter der Fernsehbilder und der Abstumpfung gegenüber Tod und Gewalt, die sie (auch) produzieren.

Medien und Gewalt sind explizites Thema des Romans. Fraser arbeitet hauptsächlich als Kriegsberichterstatter für einen großen Privatsender namens ETV, eine Art europäisches CNN. Er ist ein Meister seines Fachs. Das Geheimnis seines Erfolgs besteht darin, daß er nicht, wie viele seiner Kollegen im Krieg, in Sarajevo zumal, die Kamera auf Leichen und geronnenes Blut richtet, sondern immer schon vorausahnt, an welcher Stelle das nächste Attentat geschehen könnte. (Das, nebenbei gesagt, ist ja auch das literarische Prinzip Haslingers: das seismographische Schreiben, das „Opernball“ so aktuell macht.) So ist Fraser live und exklusiv dabei, wie eine Frau auf dem Marktplatz in Sarajevo von einer Granate zerfetzt wird. Doch im Golfkrieg und in Bosnien hat er auch gelernt, wie sich Berichte über Greueltaten in hochgehandelten Bild-Waren verwandeln.

Haslingers „Opernball“ ist auch und vor allem ein medienkritischer Roman. Es entsteht der schreckliche Verdacht, Frasers Chef in der Pariser Sender-Zentrale könnte vom Anschlag auf die Oper schon vorher gewußt haben, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Die Medien nicht mehr als geile Voyeure der Gewalt, sondern als deren (Mit-)Inszenatoren: Wer könnte diese Möglichkeit für die Zukunft ausschließen?

Fraser, als Sohn eines Wiener Juden im Londoner Exil geboren und aufgewachsen, beginnt zu recherchieren, da sich unter den Opfern auch sein Sohn Fred (der als Kameramann arbeitete) befindet. Er erzählt seine Geschichte und die seines drogensüchtigen Sohnes. Sein Vater war einer der Befreier von Bergen-Belsen, eine Tat, auf die Fraser sein Leben lang stolz war. Die vom Vater aufbewahrten Bilder der Planierraupen, die Leichenhaufen in eine Grube schieben, ist eine der frühen Jugenderinnerungen Frasers. Die Fernsehbilder des Massensterbens in der Oper schließen also einen Kreis. Die Rückkehr des Juden aus dem Exil endet in der österreichischen Gegenwart tödlich. Damals und heute: Leichenberge. „Ihr Wiener tragt die Katastrophe in euch“, heißt es an einer Stelle. So gelingt es Haslinger, hinter dem aktuellen Rechtsradikalismus die historische Dimension sichtbar zu machen. Seine Botschaft ist nicht die blinde Wiederholung der Geschichte. Aber er zeigt, wie die in der Gesellschaft vorhandenen Aggressionen sich artikulieren, indem sie auf alte Formen und Symbole zurückgreifen. Die Wiener Oper als Gaskammer ist nur eine verrückte Zuspitzung dieses Prinzips.

Fraser sucht nun Überlebende der Katastrophe auf und spricht mit ihnen. Er findet einen der „Entschlossenen“ in seinem Versteck und hört sich dessen Geschichte an; er spricht mit einem Wiener Polizeibeamten, der gegen die Demonstranten vor der Oper eingesetzt war und der den alltäglichen Rechtsradikalismus des durchschnittlichen Ordnungs- und Sauberkeitsdenkens repräsentiert. Aus den Tonbandprotokollen dieser Verhöre und Gespräche entsteht ein collagenhaftes Gesellschaftspanorama, subjektive Lebensberichte, die nur in ihrem Fluchtpunkt, dem zufälligen Zusammentreffen in der Opernballkatastrophe, verbunden sind.

So gelungen und handwerklich perfekt die Erzählkonstruktion, so wenig überzeugt die allzu schmucklose literarische Umsetzung. Zwischen den einzelnen Sprechern, ob sie nun Wachtmeister, Fabrikant oder Hausfrau sind, gibt es kaum sprachliche Differenzierungen. Auch der „Entschlossene“ redet klar und überlegt, als hätte er die Dinge völlig im Griff. Dabei sitzt er halb verhungert in einem Versteck auf Mallorca, ist der einzige der Gruppe, der den Anschlag überlebte (die anderen machen sich in dem heroischen Selbstmordkommando zu Märtyrern, was kaum dem eher feigen und hinterhältigen Vorgehen „realer“ Rechtsradikaler entspricht), und bringt sich am Ende selbst um. Seine Verunsicherung, seine Angst und seine Motivation, Fraser die Geschichte überhaupt zu erzählen, werden an keiner Stelle deutlich. Aber das ist der einzige Mangel dieses packenden Thrillers: eine im besten Sinne engagierte, entlarvende Literatur, die an keiner Stelle peinlich zeigefingrig wirkt.

Der Wiener Gesellschaft schien die von Haslinger erfundene Wirklichkeit aber doch etwas zu degoutant. Rechtsradikale, das weiß man doch, bringen Ausländer um, Penner, Zigeuner, Leute, die schwächer sind als sie selbst. Vielleicht noch Intellektuelle oder hier und da einen Politiker. Aber doch nicht die High-Society! Tatsächlich kann man Haslinger diese Volte als Wesensverdrehung des Rechtsradikalismus vorwerfen. Zumal, da während des Anschlags vor der Oper linke Demonstranten randalieren. Ihnen ist der jährliche Opernball etwa das, was Kreuzberger Autonomen der 1. Mai bedeutet. Im Ergebnis könnte man die Romankonstruktion nun so verstehen, daß die Bedrohungen von Links und Rechts irgendwie identisch wirken.

Andererseits: Ist es nicht so, daß erst dann, wenn nicht die Außenseite, sondern die Eliten der Gesellschaft als potentielle Opfer geschildert werden, die rechte Gefahr dramatisch so zugespitzt erscheint, daß sie auch von denen ernst genommen wird, die ansonsten nur zu halbherzigen Distanzierungen bereit sind? Die Gefährlichkeit des Rechtsradikalismus, das zeigt Haslinger mit seiner Fiktion, besteht gerade in seiner Ziellosigkeit.

Eine Bewegung, die sich ihrer Ideen eigentlich schämt und die stets mit Abwiegeln und Vernebeln beschäftigt ist, anstatt für sich zu werben, kann sich gegen alles mögliche richten. Zumal dann, wenn ihnen in einer richtungslosen Gesellschaft nichts entgegengehalten wird.

Josef Haslinger: „Opernball“. Roman. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 1995, 473 Seiten, 44 DM

Von Haslinger gibt es auch eine CD: „Amerika — ein Reiseepos für eine statarische Stimme und zwei zügellose Zugposaunisten“ (zusammen mit Berti Mütter und Werner Puntingam). Edition Buchkultur, Wien