Ein Hauch von Europa

„Evropa-Zentr“, Deutschlands einzige Zeitung, die auf russisch erscheint, ist ein Ratgeber und Wegweiser durch eine fremde Kultur  ■ Von Thorsten Schmitz

Von Beruf und Berufung ist Juri Zarubin, 56, Chefredakteur – und er sieht aus, wie Chefredakteure aussehen müssen: silbergraues Haar, sacht gescheitelt, eine Lesebrille mit diesen halben Gläsern, die linke Augenbraue mephistophelisch gezackt, ein bordeauxroter Pullunder. Seltsamerweise ziert sich Juri Zarubin, die russische Version des Erich Böhme, deutsch zu reden. Er könnte ja einen Fehler machen. Beim Lesen ist er weit weniger zurückhaltend. Zu seiner Pflichtlektüre gehören FAZ und Süddeutsche Zeitung, Spiegel, Zeit und Tagesspiegel. Am allerliebsten jedoch schmökert er in der Provinz: Sein Lieblingsblatt ist der Rheinische Merkur.

Vor vier Jahren schon zog Zarubin von Moskau nach Berlin. Und noch immer traut er sich nicht richtig, deutsch zu reden, obwohl er ziemlich viel versteht. An diesem Zustand wird sich so bald wohl nichts ändern: „Ich bin einfach so beschäftigt, daß ich keine Zeit habe, die Sprache zu lernen.“ Von einem Intensivkurs hält Zarubin seine derzeitige Funktion ab, die ihm wenig Geld und, weit über die Landesgrenzen hinaus, viel Anerkennung bringt. Er managt die vor knapp zwei Jahren gegründete Evropa-Zentr, eine „unabhängige Wochenzeitung“, wie es im Titel steht; sie erscheint allerdings nur alle drei Wochen. Es ist zur Zeit die einzige in russisch veröffentlichte Zeitung in Deutschland. Ihr bekanntester Abonnent, der in Köln lebende Lew Kopelew, hofft, Evropa-Zentr werde „Zeuge einer neuen Epoche in der Entwicklung russisch-deutscher Geistesbeziehungen“ und „alten und neuen Vorurteilen“ entgegenwirken.

In den frühen zwanziger Jahren avancierte Berlin zu der Zeitungsstadt in der russischen Emigration. Zwischen 1920 und 1924 brachten Exil-Russen insgesamt 58 russischsprachige Periodika auf den Markt, darunter allein vier Tages- und 14 Wochenzeitungen. Leser gab es genug: Allein 1923 suchten 360.000 Russen Asyl. Die meisten russischen Emigranten – und mit ihnen die Zeitungsmacher – zogen während der Weltwirtschaftskrise nach Prag und Paris; als letzte Tageszeitung wurde 1931 Rul (Das Steuer) eingestellt.

In Deutschland leben zur Zeit anderthalb Millionen russischsprechende Menschen, für sie wurde Evropa-Zentr gegründet. Wobei das Blatt nicht aus Reminiszenzen an die alte Heimat besteht. Es ist ein Wegweiser und Ratgeber für Menschen, die in eine andere Kultur eintauchen, eine Art Anker also für Assimilierungswillige. Dafür spricht auch das Zeitungsmotto links oben auf der Titelseite: „Überall, wo man leben kann, kann man gut leben.“

Zwischen Annoncen für italienische Designer-Einbauküchen, Direktflüge nach Taschkent, Spielhallen und gebrauchte Mercedes- Limousinen plazieren die Redakteure von Evropa-Zentr Artikel über das Asyl-Prozedere und über das Baumsterben, über die Love- Parade und die sogenannte Russen-Mafia. Als in Deutschland flächendeckend neue Geldscheine auf den Markt kamen, druckte das Blatt mit Redaktionssitz in Mariendorf jede Note ab und klärte darüber auf, wieviel sie wert und wer auf ihr abgebildet ist. Eine Reportage über die von osteuropäischen Jungen dominierte Stricherszene hinterm Bahnhof Zoo findet sich auf einer von regelmäßig 16 Seiten, wie auch ein Porträt von Schindler-Schlemihl Steven Spielberg. Wie Kriminelle in deutschen Gefängnissen resozialisiert werden, erfahren dreiwöchentlich bis zu 40.000 Leser immer donnerstags für 2,80 Mark, wie sich der Prozeß um die Morde in Solingen hinzieht, was sich Ignatz Bubis von den jüdischen Russen erhofft und wie die Moskauer Attacke auf Tschetschenien die Wirtschaft der GUS-Staaten in den Ruin treibt.

Seine Hauptaufgabe sieht Juri Zarubin darin, seine russischsprechenden Leser zu „europäisieren“, ihnen die „europäische Mentalität“ nahezubringen. Dazu gehört auch das Steuer-Einmaleins deutscher Fasson, das in Form einer Serie die russischen Neu-Deutschen an die Schattenseiten der neuen Heimat erinnert.

Die Redaktion besteht aus drei Männern und ungezählten freien Mitarbeitern, die auch aus New York und Moskau ihre Texte faxen. Herausgeber und Finanzier der Zeitung mit dem himmelblauen Schriftzug sind Horst-Wolfgang Haase und sein medizinischer Fachverlag edition q. Haases Hobby ist seit Jahren Rußland, und so erfüllt er sich mit Evropa- Zentr einen Traum.

Einen kostspieligen allerdings, der ihm gar nichts, den drei angestellten Redakteuren nur wenig bringt. Ein Artikel kann höchstens mit 150 Mark vergütet werden, das ist den Blattmachern am unangenehmsten. Die Resonanz auf die 16 Seiten mit den kyrillischen Zeichen stimmen Herausgeber und Chefredakteur dennoch zuversichtlich. Immer mehr Firmen und Unternehmen beziehen sie im Abonnement, täglich kommen zehn dazu. Sogar die Kasachen, die Russisch eigentlich nur schlecht lesen und verstehen, gewinnen dem Blatt was ab, „weil es ein Teil der Heimat ist“ (Zarubin). Die Deutsche Bank schaltet ganzseitige Anzeigen, der Keks-Multi Bahlsen versucht per Annonce, an den richtigen Mann für die Vertriebsniederlassung in Moskau zu kommen.

Und einmal im Monat weht ein Hauch Europa ins abgelegenste Sibirien, nach Nowosibirsk. Mit UPS schickt Evropa-Zentr regelmäßig eine Auswahl von Artikeln in die russische Gebietshauptstadt, gespeichert auf einer Diskette. Dort können die Menschen dann, auf einer Doppelseite in ihrer ortsansässigen Zeitung Nowaja Sibirskaja Gaseta erfahren, was die Berliner Russen für Evropa-Zentr recherchiert haben. In der letzten Ausgabe, die auch neun Flugstunden entfernt im sibirischen Tiefkühlfach zu lesen war, stand etwa ein Artikel über Sekretärinnen in Deutschland. Und zwar über solche, die der Spiegel noch nicht entdeckt hat: Sekretärinnen, die sich nach Feierabend prostituieren – um ans große Geld zu kommen.