Freie Erziehung oder Weltanschauung?

■ Schattenseiten der Waldorfpädagogik geraten zunehmend in die Kritik

In den Räumen des Waldorfkindergartens im Forum Kreuzberg herrscht eine fast klösterliche Beschaulichkeit. Durch die langen Stoffvorhänge vor den Fenstern dringt nur gedämpftes Licht. Die Einrichtung ist aus Holz oder anderen Naturmaterialien, blasse Rosa- oder Violettschattierungen dominieren. Statt bunter Kinderzeichnungen hängen an den Wänden Gemälde mit Heiligenmotiven. Spielzeug gibt es kaum, dafür aber Hölzer jeder Länge und Breite, abgesägte Aststücke und Wurzeln. An einer Holzwerkbank können ältere Kinder, die den angegliederten Hort besuchen, Spielsachen zimmern, Blumen pressen oder aus Wolle Filzpantoffeln herstellen. „Wir legen großen Wert darauf, daß Kinder bei uns lernen, ursprüngliche Prozesse nachzuvollziehen“, erklärt Susann Cojaniz, überzeugte Anthroposophin und Waldorfpädagogin.

Fertiges Plastikspielzeug gilt in der Welt der Erziehungslehre Rudolf Steiners als der Phantasie abträglich, es ist verpönt. Die Waldorfpädagogik hat eigene Vorstellungen von dem, was für Kinder gut ist: Laut Cojaniz basiert das Konzept der 17 Berliner Waldorfkindergärten auf zwei wichtigen Prinzipien: Sinnespflege und Vorbildfunktion des Erziehers.

Die Sinnespflege wird hauptsächlich durch den ausschließlichen Umgang mit natürlichen Stoffen betrieben. Das Tastempfinden soll so stärker ausgeprägt werden. Die Vorbildfunktion des Erziehers erklärt Cojaniz so: „Die Waldorfpädagogik ist eine Pädagogik, die ohne Erklärungen auskommt. Das Kind soll zum Nachahmen angeregt werden. Der Erzieher beginnt beispielsweise zu basteln und hofft, daß die Kinder hinzukommen und mitmachen.“ Bei bockigen Sprößlingen hilft laut Cojaniz oft intensives Beten und die meditative Konzentration auf das Kind. „Die springen auf so etwas an!“, sagt sie. „Es kommt nur auf die richtige Einstellung des Pädagogen an.“ In ganz hartnäckigen Fällen wird den Eltern eine therapeutische Behandlung ihres Nachwuchses angeraten – selbstverständlich eine nach anthroposophischer Couleur.

In kaum einem anderen Erziehungsmodell besitzt die Kindergärtnerin eine so große Autorität wie hier. „Pädagogisch haben die Eltern bei uns nichts zu melden“, sagt Susann Cojaniz freimütig. Viele Waldorf-Eltern scheint das nicht zu stören. „Ich bin ja pädagogisch nicht geschult“, findet Patricia Engel, deren zwei Söhne Waldorf-Einrichtungen besuchen. „Ich vertraue den Erziehern. Sie wollen das Beste für mein Kind.“ Die enge Zusammenarbeit der Pädagogen mit den Eltern, zum Beispiel durch Hausbesuche, empfindet sie als konstruktiv. Andere bewerten sie schlicht als Einmischung und melden ihre Kinder, wenn es Schwierigkeiten gibt, lieber wieder ab.

Laut Paul-Albert Wagemann, ehemaliger Waldorflehrer und Kritiker der anthroposophischen Pädagogik, informieren sich die meisten Eltern nicht intensiv genug, bevor sie ihr Kind in eine Waldorf-Einrichtung schicken. Aus dem diffusen Wunsch nach einer alternativen, freieren Erziehung entscheiden sie sich für eine Steiner-Schule. Nicht wenige fallen aus allen Wolken, wenn sie mit der streng christlichen Moralerziehung konfrontiert werden. „Waldorfschulen sind Weltanschauungsschulen, die auf Okkultismus beruhen“, kritisiert Wagemann. „Ein fruchtbarer Dialog mit Anthroposophen ist nicht möglich, weil sie mit Aussagen arbeiten, die nicht falsifizierbar sind.“

Die fehlende Kritikfähigkeit mancher Waldörfler bekam Wagemann erst kürzlich bei der Aufführung seines Dokumentarfilmes „Ich lobe das Wort – Mythos und Wirklichkeit der Waldorfschule“ im Eiszeit-Kino zu spüren. „Alles Lüge!“, hieß es aus dem Publikum, eine Bierdose knallte gegen die Leinwand. Vorwürfe, seine Analyse sei zu einseitig, weist er von sich: „Die positiven Klischees über die Waldorf-Schule stimmen ja zum Teil. Bloß die Schattenseiten – die sind völlig unbekannt.“ Tanja Hamilton