Ein politischer Akt

■ Michael Wildenhain über neue Dramatik im etablierten und im freien Theater

taz: Seit 1987 hast du sieben Stücke geschrieben, von denen nur eins in Berlin uraufgeführt wurde. Das Freie Schauspiel zeigte 1993 „Denn es ist die Maschine in ihnen“, das auch zum Festival „Politik im freien Theater“ nach Dresden eingeladen wurde. Ansonsten haben weder freie Gruppen noch etablierte Theater in Berlin bisher großes Interesse an deinen Texten gezeigt.

Michael Wildenhain: Insgesamt zeichnet sich durchaus eine Trendwende ab, was neue Dramatik betrifft. Es gibt immer häufiger Uraufführungen, allerdings meistens in kleineren Städten. Deren Theater haben manchmal mehr Geld und wollen überregionale Presse. Die Leute halten es dennoch anscheinend nicht für normal, daß das Theater ein Ort ist, an dem aktuelle Sachen verhandelt werden. Wenn das aber so bleibt, wird Theater zum Museum, zu einer Bewahranstalt klassischer Texte.

Welche Dinge verhandelst du in deinen Stücken, die sich nicht in einer der üblichen Klassikermodernisierungen verpacken ließen?

Mein Anliegen ist es, Fragen in einer prägnanten Form modellhaft zuzuspitzen. Wenn man solche Fragen etwa in eine Inszenierung der „Iphigenie“ packt, wird das Ganze in einer eigentümlichen Art verschoben. Teilweise lassen sich geschichtliche Situationen mit heutigen vergleichen. Es gibt aber immer ein Gran Neues.

Jetzt wird es bald eine zweite Berliner Premiere geben. Thomas Heise, der schon die Uraufführung von „Hungrige Herzen“ in Heilbronn inszeniert hat, will im Berliner Ensemble „Im Schlagschatten des Mondes“ aufführen, gemeinsam mit einem anderen, kurzen Stück: „Hänsel und Gretel“. Die Premiere soll am 7. Mai sein. Bei „Im Schlagschatten des Mondes“ handelt es sich um eine negative Lehrstücksituation: drei Leute müssen sich angesichts eines gewalttätigen Vorgehens von Rechtsradikalen überlegen, wie sie sich verhalten. Sie tun das nacheinander, einzeln, wie es realistischerweise ja auch ist. Man könnte die Sache letztlich als Aufruf zum solidarischen Handeln sehen. Das ist allerdings nur versteckt angedeutet. Wenn man deutlicher wird, wird die Sache falsch. Denn politische Praxis geht – außerhalb von parlamentarischen Initiativen – von einzelnen oder kleinen Gruppen aus. Man kann nur Fragen stellen, das meine ich mit „negativem Lehrstück“. Es gibt keine Lehre.

Die Zusammenarbeit mit dem Freien Schauspiel ist bislang ein Einzelfall geblieben?

Das Hauptproblem bei freien Gruppen ist, daß sie sich – anders als zu Anfang dieser Bewegung – nicht vom etablierten Theater absetzen, sondern die Arbeit im Off- Bereich nur als Sprungbrett benutzen wollen. Dadurch entsteht ein Abklatsch des Stadttheaters. Zur Zeit eines gesellschaftlichen Aufbruchs sind diese Gruppen entstanden, und mit dem gesellschaftlichen Abbruch fällt ihre Motivation offenbar in sich zusammen. Ansonsten müßten sie ja sagen: wir machen das, was die großen Theater nicht machen. Aber auch hier entstehen Produktionen eher nach individuellen Interessen eines Regisseurs, der vielleicht keinen Überblick über neue Stücke hat. In etablierten Theatern gibt es dafür die Dramaturgie. Auch im Freien Schauspiel war es eine Dramaturgin – auf einer ABM-Stelle –, die das Stück machen wollte und sich dafür eingesetzt hat.

Das strukturelle Problem ließe sich mit einer Art dramaturgischem Büro lösen.

Wenn die freien Gruppen bereit wären, ein solches Angebot zu nutzen, dann könnte so ein Büro enorm nützlich sein. Auch die Verlage hätten damit eine Anlaufstation. Das könnte ein Ausweg aus der Misere sein.

Ist es denn teuer, ein zeitgenössisches Stück zu spielen?

Was ein Stück kostet, ist Verhandlungssache. Das hängt mit der Größe des Theaters zusammen. Bei Uraufführungen wird eine Pauschale ausgehandelt. Bei freien Gruppen ist das noch mal anders. Beim Freien Schauspiel gab es eine Aufführungspauschale von 60 Mark pro Tag. Diese Kosten machen bei der Produktion einen marginalen Anteil aus. Stücke von bekannteren Autoren werden freien Theatern aber ja gar nicht zur Verfügung gestellt. Die Verlage werden ein Drama natürlich lieber einem Stadttheater zur Uraufführung anbieten als einer freien Gruppe.

Fehlende Dramaturgie und Verlagspolitik sind Schwierigkeiten für die freien Gruppen, aber doch überhaupt kein Grund, neue Stücke nicht zu spielen.

Ein neues Stück zu spielen ist mit vielen Risiken behaftet. Das fängt damit an, daß der Text formal schwierig sein mag, daß er vielleicht auch noch nicht ausgegoren ist. Sich auf so etwas einzulassen, aus dem Bedürfnis heraus, ein Bewußtsein zu schaffen für die Dinge, die heute passieren – das wäre ein politischer Akt. Aber so etwas zu sagen ist natürlich gewagt. Interview: Petra Kohse